“Meine Uroma (Ü90) hat mir vor ein paar Monaten noch erzählt, dass die politische Lage und Stimmung sehr ähnlich der von vor 1933 ist. Wir haben heute die Möglichkeit eine bessere Wahl zu treffen.” postet mein Bruder um 09:14 Uhr am Wahlsonntag auf Facebook. Ich war schon wählen, war um 08:01 die erste in meinem Lokal, war die, anhand derer den Wahlhelfern erklärt wurde, wie sie für einen reibungslosen Ablauf vorzugehen haben. Fand ich lustig. Ich ging hinter die Trennwand, setzte meine zwei Kreuze, las mich kurz durch die restlichen Kandidaten der Liste, lies mich abhaken und ging beschwingten Schrittes in meinen Sonntag. Ich hatte mich gegen Briefwahl entschieden, weil ich die Stimmung erleben und am Tag selbst richtig dabei sein wollte.
Ich beschäftige mich sicher nicht immer gleich stark mit Politik, habe seit etlichen Jahren keinen Fernseher mehr, konsumiere Nachrichten vor allem online und zumeist über die Social Media-Auftritte und Apps von Tagesschau, Abendblatt, Spiegel Online und Co. Aber auch wenn ich dem Thema Politik nicht immer gleich viel Aufmerksamkeit schenke, ist mir klar, dass wir immerzu von politischen Entscheidungen und deren Auswirkungen betroffen sind, nicht nur alle vier Jahre. Dass wir alle diesem Thema viel mehr Aufmerksamkeit schenken sollten, weil wir das Glück haben in einer Demokratie leben zu dürfen.
Wir dürfen hier aufwachsen und leben,
ohne etwas dafür getan zu haben aus diesem Land zu sein.
Ohne etwas zurückzugeben. Bis auf Steuern.
Ich bin dankbar, in Deutschland geboren zu sein.
Ich bin dankbar, hier mein Leben verbringen zu dürfen.
Dass ich wähle, ist deswegen für mich selbstverständlich.
Wen ich wähle, hatte ich vorher lange überlegt. Ich habe mehrmals den Wahl-o-Maten beantwortet und auch auf DeinWal meine Meinung ausgewertet, ich habe mich durch Parteiprogramme und circa 272 Artikel gelesen. Der emotionalste war für mich der über die junge Frau, die wählt, weil ihre Eltern es nicht tun. Letztendlich hatte ich mich nach Wahlprognosen und Hochrechnungen entschieden, taktisch zu wählen, was außerdem auch meinem Ergebnis im Wahl-o-Maten entsprach. Es gibt 42 Parteien, die zur Wahl stehen, sogar eine Partei für Veganer ist dabei. Aber gefühlt ging es den ganzen Wahlkampf lang nur um eine Einzige.
“Denkst du irgendjemand unter deinen Freunden wählt die AfD?” werde ich am Tag vor der Wahl gefragt. Ich überlege kurz und gehe im Kopf echte Freunde und Facebook-Freunde durch und antworte dann “Hm, ne. Da fällt mir zum Glück niemand ein.”
Wir sind vor allem mit Menschen befreundet, die unsere Interessen und Weltanschauung teilen, die vielleicht das gleiche beruflich machen oder den selben Humor haben. Genauso wie wir unser echtes Leben an unsere Vorstellungen anpassen, Freundschaften beenden, die uns nicht gut tun, getrennte Wege gehen oder uns verändern, genauso passen auch Soziale Netzwerke ihre ausgestreuten Inhalte an uns an. Filterblase nennt man das. Das Wort hat Eli Pariser erfunden, der in seinem gleichnamigen Buch “The Filter Bubble” auch davor warnt, dass uns solcher Algorithmus von neuen Ideen, Themen und wichtigen Informationen ausschließt. Mir wird längst nur noch das angezeigt, was für mich relevant sein könnte. Was eben nicht nur am Algorithmus liegt – auch unabhängig der digitalen Welt ziehen wir es vor, uns mit Gleichgesinnten zu umgeben, Facebook ist nur der Spiegel davon. Ich hatte letztens erst den Fall, dass rassistisch anmutende Tendezen von einem Facebook Freund in meiner Timeline auftauchten. Zack, entfreundet. Raus aus meiner Filterblase. Um Meinungen aufzuspüren, die konträr meiner sind, muss ich mich schon aktiv durchklicken, statt stumpf die Startseite zu konsumieren.
Also habe ich mich mal aus meiner Filterblase rausbewegt. Wo man Menschen findet, die eine andere Meinung haben, als man selbst? Vor allem in Facebook Kommentaren großer Seiten. Und ich sage euch, macht das mal. Ich habe mich verloren und bin quasi Stunden später wieder aufgetaucht, völlig desillusioniert.
Auf meiner Startseite dagegen, zurück in meiner Filterblase, lässt es quasi niemand aus – weder Freund, noch Bekannter, noch große Seite – klar Stellung gegen die AfD zu beziehen. Auch ich hatte mich im März 2016 nach den Landtagswahlen in meiner Heimat Sachsen-Anhalt schon einmal politisch-emotional über den Erfolg der AfD geäußert und den Beitrag “Ich schäme mich” verfasst, der mir viele Klicks, viel Zuspruch, Kritik und viele persönliche Beleidigungen einbrachte, vor allem in den Facebook Kommentaren zum Artikel, den die Mitteldeutsche Zeitung über meinen Beitrag veröffentlichte, den die MZ löschte, weil es so sehr ausuferte.
Und plötzlich geht es nur noch um diese eine Partei.
Keine Partei wurde im Wahlkampf so oft besprochen wie die AfD. Unzählige Menschen haben sich dagegen positioniert, oder, wie Jennifer Rostock, dagegen gesungen. Und immer wieder kamen Kommentare wie: Solange du darüber redest, wird diese Partei in den Köpfen existieren. Gilt auch hier “auch schlechte Werbung ist Werbung”? Hilft diese ganze Aufklärung überhaupt irgendwem? Wenn Leute aus Protest wählen, a la “denen werde ich es zeigen”, festigt die ganze Aufmerksamkeit nicht eher die eigene sture Meinung? Wäre es deswegen zielführender sie zu ignorieren? Und wogegen eigentlich Protest?
Protest aus Unzufriedenheit über eine generelle Distanzierung der etablierten Parteien vom einfacheren Volk. Protest von Menschen, die sich einen Umschwung wünschen, Rebellion und eine völlige Erneuerung – oder eine Rückkehr zu den guten, alte Zeiten. Ich bin überzeugt, dass vielen gar nicht so wirklich klar ist, wen oder was sie da wählen, da nur Asyl und Zuwanderung in den Fokus des Wahlkampfes gerückt wurde. Deswegen auch mein Teilen des Artikels “So extrem sind die Kandidaten der AfD.”
Unter meinem “Ich schäme mich”-Post bekam ich als Kommentar: “Und so muss du dich nicht wundern, dass die Leute den etablierten Parteien bei der Wahl einen Denkanstoß geben wollten. Die Landesregierung muss aus ihrem Zufriedenheitsschlaf aufgeweckt werden.” Wenn ich dann in das Parteiprogramm schaue, frage ich mich aber schon: Ist dieser gewünschte Denkanstoß es wert, sich für ein Frauenbild von 1933 auszusprechen? Unbezahlte Zwangsarbeit für Langzeitarbeitlose zu unterstützen, die Schließung der Grenzen, Leugnen des menschengemachten Klimawandels und Streichen des Holocausts aus dem Mittelpunkt des Unterrichts, höhere Besteuerung von Niedriglöhnen, Unterstützung nur für traditionelle Familienformen, die Wiedereinführung des Abstammungsprinzips, das Verlassen der EU … ich könnte noch ewig so weitermachen. Kann man einen Denkanstoß nicht auch anders liefern – zum Beispiel, in dem man einfach mal mitdenkt?
Und sie wissen nicht, was sie tun.
Nicht alle politischen Umstände in Deutschland stimmen mich glücklich. Ich persönlich rege mich unter anderem gerne über Bildungsthemen auf, vor allem seit ich in Schweden studiert und gelernt habe, wie es besser geht, rege mich auf über diese Chancenungleichheit, Elterneinkommensgebundenes Bafög und diese Abhängigkeit, unterschiedliche Schwierigkeitsgrade zwischen den Bundesländern zu Schulzeiten, dass 1,8 nicht gleich 1,8 ist. Eines von vielen Dingen, die geändert gehören. Aber ich habe gelernt, dass man um so etwas zu ändern, um sich für Themen wie Bildung einzusetzen, aktiv mitmachen muss. Es gibt unzählige andere Wege, im politischen Geschehen zu partizipieren. Wenn man, meinetwegen, bloß rebellieren will, könnte man doch auch Die Partei wählen, die vor allem mit völlig sinnfreien Werbeplakaten auf sich aufmerksam machte. Man ändert nichts, wenn man aus Protest ein Kreuz falsch setzt. Das ist kein Aktivismus. Das ist keine Verbesserung. Letztendlich schadet man damit vor allem sich selbst.
Nicht alle politischen Umstände in Deutschland stimmen mich glücklich.
Aber wir können verdammt froh sein, hier geboren worden zu sein.
Ein Privileg, das nicht jeder zu schätzen scheint, der heute wählen darf.
Marina C. says
Hallo Luise,
Danke für diesen tollen emotionalen Post! Ich fühle so ähnlich wie du und bin auch nie außerordentlich politisch engagiert gewesen. Doch wenn so etwas passiert wie gestern, werde ich wütend und traurig zugleich. Um dir Mut zu machen, kann ich dir sagen, dass ich heute Jugendlichen im Bus zugehört habe, die sich klar politisch geäußert haben. Alle waren gut informiert und schockiert über das Ergebnis der Wahlen. Das lässt mich Hoffnung für die Zukunft schöpfen ❤️
LG Marina
Lisa says
Liebe Luise,
ich stimme dir voll und ganz zu. Ich hatte in der letzten Zeit sehr ähnliche Gedanken im Kopf, als ich mich intensiv mit der Wahl und den einzelnen Parteien auseinander gesetzt habe.
Auch heute, zwei Tage ‘danach’, fühle ich noch immer eine Art Ohnmacht in mir. Ich bin traurig, wütend, entsetzt. Aber mittlerweile versuche ich mich trotz all dem daran festzuhalten, dass eben 87 Prozent nicht eine Partei wie die AFD gewählt haben. Das lässt mich ein bisschen mehr hoffen und ein bisschen weniger zweifeln.
Liebe Grüße
Lisa
Mela says
Hallo, schöner Post.
Ich war erst Wählerin und hab mich auch lange damit beschäftigt wenn ich wählte. Geschockt das die Afd in den Bundestag einzieht war ich nicht, ich hatte es schon befürchtet. Aber als ich durch dich darauf Aufmerksam gemacht wurde am Wahl Abend, das man nach schauen kann wie meine Gemeinde gewählt hat, dachte ich fall vom Glauben an. Als erstes die CDU gleich danach die Afd… es hat also jeder 4 bei mir die Afd gewählt. Und dann heute morgen die Zeitung gelesen mit den Ergebnissen jeder einzelne Dörfer.. Ich muss sagen ich bin sprachlos. Auch denke ich das die meisten Protestwähler waren, und kein Vertrauen in die etablierten Parteien mehr haben. Wie kann man sich das sonst Erklären das die CDU die meisten 1 Stimmen hat (der Abgeordnete ein großes Vertrauen genießt) aber bei der 2 Stimme deutlich Verloren hat … an die Afd…
Ich bin gespannt auf die nächsten 4 Jahre
LG Mela