Mein Wecker geht meist gegen 6:50 Uhr gerade. Ich krieche aus dem warmen Bett und hüpfe hinter dem vorrennenden Hund hinterher die Treppe runter in die Küche. Vor dem Küchenfenster der schönste Sonnenaufgang. Eine von uns kriegt Futter, eine Obst und Kaffee. Am Fenster neben meinem roten Sessel wartet mein großer Bücherstapel, in den ich mich verkrieche. Also, genauer gesagt, immer nur in ein Buch gleichzeitig. Ich widme mich Projekten, neuen Ideen, Plänen für das Jahr. Nach einem schönen, produktiven oder ruhigen Tag (alles gut!) zünde ich gegen neunzehn Uhr die Kerzen in unserem Wohn-Ess-Zimmer an. Dann die Arbeit weg und gemeinsames Kochen. Ich probiere Rezepte aus, na gut, eigentlich nehme sie eher als grobe Inspiration, um dann doch Zutaten wild zusammen zu werfen und mich wie ein Zauberer zu fühlen, wenn es trotzdem gelingt — aber immerhin! Und meine ungewollte Klavier-App und ich, wir sind auch schon richtig intensive Freunde.
Ich wäre gerne, wie geplant, mit Diana im April nach London gefahren, meine Haare würden gerne mal wieder zum Frisör, ich würde meine liebsten Cafés gerne mit realen Besuchen statt mit Gutscheinen unterstützen. Ich würde gerne wieder mit meinen Großeltern zu Mittag essen, wie wir es Anfang März eine ganze Woche lang noch getan haben, statt ihnen nur die Einkäufe vor die Tür zu stellen. Aber auch das geht vorbei — und solange ist mein Leben genauso erfüllt wie vorher, nur eben anders. Heute war mein aufregendster Part des Tages, morgens zur Post zu spazieren. Die Sonne hat geschienen, es war eiskalt. Ich hab mir die Häuser meiner kleinen Heimatstadt intensiver angeguckt als je zuvor und dachte mir: Hier ist’s aber schön. Und: Heute wird ein richtig schöner Tag.
Vor dem Abitur, als ich zitternd das Blatt umdrehte, vor Umzügen ins Ungewisse, vor dem Flug, der mich ein Semester nach Schweden brachte, im größten Liebeskummer: Ich wusste, das alles gut wird. Ich habe schon immer ein großes Maß an Vertrauen in mich, in das Leben, in die Liebe, in alles, was mich umgibt. Klar, wurde das auch schon mal erschüttert und klar, hat mich das auch schonmal auf die Nase fallen lassen, aber grundsätzlich bin ich damit immer gut gefahren.
Wenn ich die Augen schließe und in mir alles abklopfe, durchatme, in jeden Winkel in mich reinfühle, dann ist da Urvertrauen, Dankbarkeit und Zuversicht. Wenn ich die Augen schließe, dann befinde ich mich in Stränden in Mexiko, im Garten hinter unserer umgebauten Scheune mit meiner selbstgewählten Familie, mit meinen Freunden grillend an einem See, lachend. Umarmungen. Ich kann mir die Zukunft schon immer wirklich gut vorstellen. Auch jetzt, die ‘danach’.
Ich habe nicht nur das tiefe, sichere Gefühl in mir, dass alles gut wird — ich weiß es. Ich kann gar nicht anders.
Wenn man von Angst begleitet wird, dann ist es eine völlig normale Reaktion, diesen Text hier total naiv zu finden. ‘Was weiß die denn schon von meinem Leben!’ Nichts, tatsächlich, und darum soll es auch gar nicht gehen. Aber ich weiß, was möglich sein kann, wenn man ins Leben vertraut. Jeder in seinen Optionen. Du kennst dich am besten, weißt, was es für dich bedeutet, jetzt zu vertrauen, mal reinzufühlen, in deine Bedenken und woher die kommen. Es ist wie ein Einladung, dich selbst richtig intensiv kennenzulernen. Du musst die Corona-Krise nicht für dich nutzen — du musst erstmal überhaupt gar nichts — du kannst und darfst aber, und überhaupt, wann, wenn nicht jetzt?
Ich bin mir sicher, dass alles von unserer Einstellung gelenkt wird. Es gibt Situationen, da ist alles perfekt — und doch sind wir kein übersprudelndes Glück, und dann gibt es die anderen Tage, da sind wir es doch, quietschvergnügt, könnten Bäume ausreißen. Völlig ohne Grund. Weil nicht die Umstände unsere Launen erschaffen, sondern wir, irgendwo tief in uns drin. Darüber, dass Corona große Scheiße ist, angsteinflößend, weltverändernd, darüber sind wir uns alle einig. Nur: Mein mich Sorgen würde an der Situation, die wir haben, überhaupt nichts ändern. Ich kann einfach nur mein bestes geben, mich an alle Instruktionen zu halten. Und nicht die Umstände erschaffen meine Laune, ich tue es.
Gedankenexperiment: Es ist Sommer 2021, du sitzt mit deinen Freundinnen im Café, ihr plant euren Urlaub, umarmt euch, enger als je zuvor, du gehst auf Dates, du deckst bei deinen Großeltern den Kaffeetisch, und ihr sitzt bei Kaffee und Kuchen eng zusammen. Du blickst zurück, auf das letzte Jahr, dass du ab und zu mal drinnen bleiben musstest, dich für das Gemeinwohl und deine Liebsten eingeschränkt hast. Das nicht so war wie du gedacht hast — nicht schlechter oder besser, einfach völlig anders. Du hast gelernt, von viel weniger Geld zu leben, Kurzarbeit oder ausbleibende Aufträge sei Dank, und hast durch die neue Situation gelernt sparsamer zu sein, den Wert von Geld mehr zu schätzen, weißt, für wie viel du was gesund und lecker zaubern kannst. Du warst nicht in deinen liebsten Restaurants, aber hast endlich kochen gelernt. Du hast spazieren und joggen an der frischen Luft für dich entdeckt, du achtest auf dich und deine Gesundheit. Du hast Klavier gelernt oder eine neue Sprache, du bist deinen Freundinnen übers Telefon noch viel näher gekommen als bei oberflächlichen Gruppen-Café-Dates. Du merkst, wessen Nähe dir wirklich fehlt. Und auf wen du getrost verzichten kannst. Du hast dich mit deinem Innersten beschäftigt, dir ein Herz genommen, dich mit unverarbeiteten Problemen auseinander zu setzen, hast eine ganz neue Ebene der klaren Kommunikation aus deinem Schloss, deinem Zuhause heraus, entdeckt. Du hast den direkten Draht zu deinen Großeltern wieder gefunden, und statt ausschweifender Partynächte in vollen Clubs hast du übers Telefon viel über den Krieg und das Aufwachsen in der DDR gelernt. Sich gegenseitig schätzen, einander helfen, Zusammenhalt, all das wurde groß und noch größer. Alles war anders — und dein Leben war trotzdem richtig erfüllt.
Und dann ist plötzlich Sommer 2021 und du blickst auf dieses Jahr voller Veränderungen. Manche hast du beibehalten, manche wieder über Bord geworfen. Die neu gewonnene Freiheit macht etwas mit dir, aber trotzdem nimmst du dir, ganz ohne zu romantisieren, echte Erkenntnisse aus dem vergangenen Jahr mit. Willst du sagen, du hast dich täglich gesorgt, oder hast du dir einfach die weltbeste Zeit im Rahmen der Optionen gemacht?
Ich entscheide mich für letzteres. Ich weiß, solange ich mich habe, kann ich aus jeder Situation etwas machen oder sie für mich passend verändern. Es ist nicht eine Frage, ob alles gut wird — das wird es eh — sondern ob du auch davor schon, währenddessen, ununterbrochen, daran glaubst.
Ich versetz mich dann oft in einen Zen-artigen Zustand und katapultiere mich zurück in meine Kindheit. Kinder glauben immer nur an das Gute. Und wenn etwas nicht klappt, dann versuchen sie es erneut. Im Erwachsenenalter verlieren wir oft den Bezug zu diesem kindgegebenen Vertrauen. Die größte Aufgabe ist es, wieder dahin zurück zu finden. Die Dinge geschehen zu lassen, ohne sie kontrollieren zu können. Glauben zu können, auch wenn alles anders wird, als wir es uns vorgestellt haben. Zu vertrauen.
Das, das nenne ich Urvertrauen. Man kann das schon immer in sich tragen, oder man kann es sich in sich erschaffen. Davon bin ich überzeugt.
Mein inneres Kind ist übrigens acht Jahre und baut gerade eine Sandburg am Strand in Dänemark, trägt lange, geflochtene Zöpfe, einen gelben Badeanzug, ein breites Grinsen und die aller-aller-größte Zuversicht im Gesicht. Genau an das erinnere ich mich zurück, wenn ich zweifele. Und muss automatisch lächeln.
(Ich habe gerade eine so schöne Woche. Ich sprudele über vor neuen Ideen. Ich blühe richtig darin auf.)
Flora says
Dein Text ist wunderschön, Luise. Und spricht mir aus dem Herzen. Ich bin Schauspielerin und heute wurden alle Vorstellungen in dieser Spielzeit abgesagt. Das macht mich traurig, dennoch weiß ich, dass es weitergehen wird. Trotz vieler Niederschläge trage ich auch ganz viel Zuversicht in mir.
Deine Worte bestätigen meine Gefühle. Und mit Vorstellungskraft und viel Fantasie kommen wir immer an jeden Ort.
Ich wünsche dir alles Gute für die kommende Zeit. <3
Bella says
Moin,
vielen lieben Dank für deine Gedanken. Der Text spricht mir aus der Seele. Ich probiere auch vieles neues aus und habe jetzt auch ein neues Hobby für mich entdeckt.
Hab ein schönes Wochenende.
Alles Liebe und bleib gesund,
Bella
Tine says
Liebe Luise,
ein wunderschöner Text, der genau das anspricht, was ich fühle, jetzt gerade mit all den Umständen. Wir können uns beschweren, enttäuscht sein, ängstlich und in den nächsten Wochen mit einem schlechten Grundgefühl durch das Leben gehen. Wir können die Zeit, die uns gerade geschenkt wird, aber auch nutzen, um mal wieder bewusster zu werden, für all das, was um uns und in uns passiert.
danke für deine Gedanken!
Liebe Grüße
Tine
Tanja says
<3