Ubuntu. Ich lese das Wort und muss lächeln. Es bezeichnet im afrikanischen Zulu die Erfahrung, sich als Teil von etwas zu fühlen. Eine Philosophie der Verbundenheit, die erkennt, dass einer nur durch die Existenz der anderen leben kann. Ich lese es wieder laut, und lasse mir die Vokale im Mund zergehen. Ich finde das Wort wunderschön. Im Deutschen gibt es kein Äquivalent dafür.
“Sich als Teil von etwas fühlen”. Ich denke an meine Zeit auf Reisen, in Hostels, und dann an meine zwei Sommer als Reiseleiterin unter der spanischen Sonne. Wir funktionierten nur als Team, mussten uns aufeinander verlassen können, die Aufgaben jeden Tag neu verteilt, Stranddienst, Ausflüge begleiten, Aushänge machen, Problemmanagement, Sprechstunde, jeder ein Zahnrad in einem größeren System. Tagsüber zu einer Gemeinschaft beitragen, abends zusammen das Leben feiern. Ich habe mich sicher nie so sehr als Teil von etwas gefühlt, wie dort. Das da, war Familie. Ich sehe die lachenden Gesichter über babyblauen Shirts und Namens-Keylaces vor meinem geistigen Auge, die Übermüdung, die durchgetanzten Nächte, die kalten Pizzastücke, die Teammeetings um 18 Uhr, ein Kreis aus weißen Plastikstühlen und das erste Bier des Tages danach. Gekühlt aus kleinen, roten Estrella-Dosen vom Souvenir-Kiosk nebenan. Flip Flops, Sonnenbrand und keine Sonnencreme, Eis auf der Einkaufsstraße auf dem Nachhauseweg vom Strand. Das einander nach Hause bringen, die Anrufe über die kleinen Nokia-Handys, ob man auch wirklich sechs Uhr für die Neuanreise aufgewacht ist. Zuhause war so weit weg. Dort, in Lloret und Calella, hatten wir nur uns. Eine wild zusammengewürfelte Gruppe Anfang Zwanzigjähriger aus ganz Deutschland. Wir lebten, arbeiteten, aßen und feierten zusammen. Die Erinnerungen sind scharf, obwohl meine Reiseleiterzeit in Spanien und das Erleben genau dieses Gefühls viele Jahre her ist. Ich habe mich als Teil einer fest zusammenhaltenden Familie gefühlt, und diese Nähe hat mich geprägt.
»Ubuntu«, weil wir uns gegenseitig brauchen, um uns selbst zu erkennen
Viele Jahre später, Brandenburg.
“Es ist schön zu sehen, wie nah ihr euch seid”, sagte ich zu ihm und betrachtete das neu kennengelernte Familienleben. Ich konnte es nicht genau erklären, aber die Liebe, die hier durch die Räume floss, die wiederkehrenden Umarmungen, die Wertschätzung füreinander, das machte etwas mit mir. Nicht bei meinem ersten Besuch hier und bei keinem danach hatte ich mich fremd gefühlt. Es war, als würde ich jetzt einfach dazugehören. Als hätte ich, mit einem Mal, eine weitere Familie dazugewonnen. Seine. Auf der Rückfahrt in die Stadt dachte ich nach und verband in meinem Kopf meine Erinnerungen an all die unterschiedlichen Familienkonstellationen, die ich kennengelernt hatte. Sich nah sein. Wie erschafft man sich das?
Ich friere in der Altbauwohnung, dabei ist die Heizung auf fünf gedreht. Die Rohre knacken, während das laut durchrauschende Wasser den Heizkörper füllt. Auf dem Fensterbrett brennen ein paar Kerzen, eine so schief, dass ich vor meinem geistigen Auge schon sehe, wie der Kaktus daneben in Flammen aufgeht. Die losen Blätter halten sich nur noch an dünnen Fäden am Baum vor meinem Fenster fest. Ich betrachte sie eine Weile, wie sie sich in dem schwachen Wind wiegen, dann wieder zum Stillstand kommen, den Blick auf die gegenüberliegenden Fenster verbergen und wieder freigeben. Das ganze Jahr über blinkt in einer der Scheiben einer dieser hektischen rot-grün-blau-Leuchtkränze, wie man sie sonst aus Fahrschulen kennt. Ich ertappe mich dabei, mich zu fragen, welche Art Mensch da wohnt. Ich weiß es nicht.
Sowieso sind meine Nachbarn mir noch relativ fremd. In der Großstadt geht dieser “Gemeinsinn”, das Bedürfnis, sich nah zu sein, schnell verloren. Anonymität legt sich wie ein kalter Mantel über die Häuserschluchten großer Städte, trotz mehr Menschen auf engerem Raum. Das Zusammenleben ist wahlloser, kälter, einsamer, vielleicht.
Die Sehnsucht?
Teil eines großen zu Ganzen sein.
Jungen Menschen ermöglicht das Entfliehen der sozialen Kontrolle fester Dorfgemeinschaft mehr Ausprobieren, vielleicht mehr persönliche Entfaltung. Sie zieht es weg vom Land, hin in das Unkontrollierte großer Städte, wie auch mich damals, mit 18. Diese Anonymität kann ganz willkommen sein, wenn man morgens um sieben verkatert in der S-Bahn nach Hause sitzt. Sie kann aber auch sehr einsam machen. Irgendwann kehrt sich dieses Bedürfnis nach Anonymität deswegen wieder in ein Bedürfnis nach Nähe um.
Die anhaltende Landflucht der Großstädter ist mit der Sehnsucht nach diesem Gefühl eng verknüpft: Es ist nicht nur mehr Platz, bezahlbarer Wohnraum und mehr Ruhe und Natur, die auch mich aufs Land locken, sondern das Bedürfnis nach familiäreren, festeren Verbindungen. Die Sehnsucht nach dem Zusammenleben. Mein eigener Umzug aufs Land zeichnet sich gerade noch nicht am Horizont ab, deswegen frage ich mich: Kann man sich Dorfstruktur und damit Wärme in der Großstadt erschaffen?
Ich denke da an meine ältere Nachbarin, die ich mir in Hamburg zur Freundin gemacht habe, und mit der ich jetzt seit fünf Jahren in engem Kontakt stehe. Hera habe ich sie in meinen Büchern genannt. Vielleicht sollte jeder, der seine Großeltern nicht mehr oder nicht in derselben Stadt hat, sich eine*n Rentnerfreund*in in der Nachbarschaft zulegen. Sich gegenseitig helfen und zuhören, kann in beide Richtungen wirklich bereichernd sein. In Vereinen hat man dieses Gefühl der Nähe und Familie ebenso schnell — egal ob man zusammen als Mannschaft spielt oder die gleiche Mannschaft vom Spielrand anfeuert. Sport bringt zusammen, zusammen Musik machen und singen, gemeinsame, regelmäßige Erlebnisse und Rituale auch. Wir versuchen gerade regelmäßige Glühwein-Wanderungen zu etablieren (Abstand & draußen sein!). Im Sommer haben wir viele Tage und Nächte, aus Urlaubsmangel, gemeinsam auf einem Campingplatz an einem See in der Nähe von Berlin in unseren Bullis verbracht. Meist wurden ganz spontan für den selben Tag noch Fahrgemeinschaften gebildet und Pläne geschmiedet. Ein enger Freundeskreis, gemeinsam aufstehen, essen, arbeiten und einschlafen. Ein familiäres Umfeld von Kolleg*innen und eine Arbeit, zu der man gerne geht, kann dieses Gefühl von Nähe genauso erschaffen. Ubuntu kann auch heißen: Sich nah sein, weil man gebraucht wird. Eine sinnstiftende Aufgabe erfüllen zu können. Um Hilfe bitten zu können und um Hilfe gefragt zu werden. “Kann ich diese Woche etwas für dich tun?”, etwa.
Was sagt es über uns als Gesellschaft aus, dass wir in unserer
Sprache kein so prägnantes, allumfassendes Wort wie »Ubuntu«
für dieses Zusammengehörigkeitsgefühl vorgesehen haben —
und wären wir uns näher, wenn wir eines hätten?
Im Café in meinem neuen Kiez, das ich immer wieder besuche, weiß die gleichaltrige Angestellte inzwischen, wie ich meinen Kaffee trinke, und rügt mich scherzhaft, wenn ich meinen eigenen To-Go-Becher vergessen habe. Es sind so ein paar Worte der Wärme, die den Tag eines anderen ausmachen können. Mit Freunden im gleichen Kiez wohnen, gibt mir dieses Gefühl der Wärme, weil wir uns spontan und zu Fuß abends am Lieblingsspäti oder der Kneipe an der Ecke treffen können (wenn sie wieder offen haben dürfen). Ich habe Zettel in die Briefkästen meiner neuen Nachbarn geworfen, um meine Hilfe anzubieten, mit Pflanzen, Hunden und Kindern im Haus. Ich passe auf alle drei von Herzen gerne auf. Beim Gassigehen treffe ich die gleichen Hundebesitzer immer wieder. Ohne uns je vorgestellt zu haben sind wir Teil der Routine der anderen geworden. Auch das alles — ist Nähe.
Ich habe sogar angefangen, regelmäßig zu telefonieren. Jeden Abend gehe ich eine Stunde spazieren, um (wegen geschlossener Fitnessstudios) mehr Bewegung zu sammeln. Kopfhörer rein, und dann rufe ich jeden Abend eine andere Freundin, einen alten Freund, meine Omis oder andere Personen an, die ich aufgrund des Lockdowns gerade nicht sehen kann und denen ich mich nah fühlen will. Ich habe Freundinnen aus anderen Städten seit Monaten nicht mehr gesehen — dafür aber auch noch nie so viel mit ihnen telefoniert. Wir sind trotz grundsätzlich größerer, menschlicher Distanz einander näher gerückt. Mein Kreis ist kleiner, aber enger geworden.
Vielleicht brauchen wir das in der Großstadt ganz besonders, dieses “ubuntu”. Das Teil-voneinander-sein. Das sich-nah-sein. Weil es nicht einfach so da ist. Weil wir es uns extra erschaffen müssen.
Mara says
So so toll geschrieben!! Ich mag Deine Texte sehr 🤗 Liebe Grüße aus dem Süden, Mara
Gina says
Sehr schöner Text! Mich zieht es genau aus diesen fehlenden Gemeinschatsgefühl aus Berlin weg. Ich ziehe Anfang Dezember nach Halle an der Saale, weil da mehrere Freund*innen von mir wohnen. Ich habe auch meine 6 Jahre in Berlin größtenteils allein gewohnt und ziehe jetzt mit einer guten Freundin aus meiner Heimat (MV) in eine WG. Ich werde Berlin sehr vermissen, aber ich denke es ist wichtiger von guten Freund*innen umgeben zu sein als in Berlin zu leben. Vielleicht zieht es mich auch in paar Jahren zurück oder auch nicht und das ist vollkommen ok.
A says
Dann jetzt schonmal willkommen in Halle. ♥️ ich wohne hier und liebe es. Aber auch hier gibt es oft das fehlende Gemeinschaftsgefühl, je nachdem wo man wohnt. 🥺 ich als Kleinstadtkind begrüße es hin und wieder, aber nicht immer.
Wenn du magst, kannst du mir ja mal auf Instagram schreiben und man kann sich (mit Abstand) mal treffen oder nach dem Lockdown was zusammen unternehmen. ☺️ Ich heiße auf Instagram @frau.hamster 🎀
Marie Luise Ritter says
Wie schön! Ich komme ja aus der Nähe von Halle, kenne die Stadt also ganz gut. Wie schön, dass du da so viele freund*innen hast. :)
Tanja says
Wunderschön geschrieben, ich finde mich in so vielen Aussagen von dir wieder und es hat mir einiges bewusst gemacht, vielen Dank dafür! 🥰
Ana Carlotta says
Liebe Luise, es ist eine wunderbare Idee von dir deine Freitagskolumne wieder ins Leben zu rufen. Ich lese so gerne von dir und schreibe auch selbst gerne. Umso mehr berühren mich deine gewählten Wörter und inspirieren mich. Ich liebe es, dass du dir die Zeit genommen hast, um zu überlegen, was jetzt gerade zu dir passt. Mir fällt es gerade im Moment schwierig meine sozialen Medien nicht fünfmal die Stunde zu checken, das Handy mal Zuhause lassen oder die E-Mails immer wieder zu aktualisieren. Ich möchte mich als “Teil von etwas” fühlen und finde gerade “Gruppen”-Freundschaften schwierig während der Lockdown-Zeit zu führen; insbesondere, weil meine Freund*innen über Städte- und Ländergrenzen hinausgehen und Reisen momentan wirklich schwierig ist. Wie gerne würde ich mir all’ die 10 wichtigen Menschen in meinem Leben schnappen und mit allen in der selben Straße oder am besten im gleichen Haushalt wohnen. Aber jetzt heißt es kreativ zu werden: Wie schaffen wir Nähe trotz Distanz? Wie halte ich Kontakt mit Familie und Freund*innen, ohne ich mich dann doch wieder auf Social Media zu verlieren? Es ist eine unglaublich krasse Zeit… Ich wünsche dir alles Gute, pass gut auf dich auf! Ich freue mich auf deine Texte :*
Laura Quellenberg says
Toller Beitrag, kann mich gut reinfühlen in das, was du schreibst. LG, Laura
Julia says
Ach, Luise.. danke für diese Worte. Ich wohne auch in Berlin und kenne dieses Verlangen nach „mehr Nähe“ sehr gut. Mir ist es glücklicher Weise gelungen in dem Haus, in dem ich wohne wirklich tolle Freundschaften und Bekanntschaften zu knüpfen. Wir passen auf einander auf, verleihen unsere Küchengeräte, bringen uns frisch gebackenen Kuchen vorbei und gießen die Blumen der anderen, wenn jemand mal nicht da ist. Meine Nachbarin ist eine wunderbare, wenn nicht sogar meine beste Freundin geworden.
Bevor sich all das entwickelt hat, wollte ich unbedingt umziehen, zentraler wohnen. Jetzt nehme ich meine vielleicht etwas zu kleine und zu dunkle Wohnung gerne in Kauf, wenn das gleichzeitig bedeutet, solch nette Menschen um mich herum zu haben.
In einem halben Jahr ist mein Studium vorbei, ich weiß nicht was kommt. Aber egal wo es mich hin verschlägt – ich weiß das alles sehr zu schätzen.
Schön, dass du wieder da bist – auf Instagram und deinem Blog.
Ganz viel Liebe an dich, Julia
Marie Luise Ritter says
Danke für diesen wunderbar tollen Kommentar. <3
Katharina says
Wunderbar geschrieben. Ich liebe deinen Schreibstil! Ich verbinde Nähe sehr mit Geborgenheit und beides geben mir nur wenige, aber dafür wichtige Menschen in meinem Leben.
Nadine says
Diese Familiäre nähe habe ich in der Familie meines Freundes… Jetzt exfreundes gefunden. Diese jetzt verloren zu haben hat mich plötzlich in ein gefühl der leere und unentlicher Einsamkeit gestürzt. Nun beginne ich mir selbst die nähe zu mir und vielleicht auch zu meiner eigenen Familie zurück zu hohlen. Die Gedanken zu nähe haben mich die letzten Tage sehr beschäftigt und dein Text hat mich im richtigen moment mitten ins Herz getroffen. Danke dafür
Alles liebe
Marie says
Danke für den schönen Post! Es hat Freude gemacht ihn zu lesen. Arbeitest du wieder an einem Buch Projekt? Ich hab dein zweites kürzlich gelesen und fand es so schön, grade zu dieser Zeit.
Nadine says
Ich bin in diesen dörflichen Strukturen groß geworden und habe sie zwar geändert, aber nie verlassen. So bereichernd sie in so vielen Hinsichten sind, sie können auch einengen, in nicht erfüllbare Erwartungshaltungen und Engstirnigkeit gegenüber eigenen Entwicklungen. Aber auch da hilft es die Sichtweise des anderen anzunehmen und mit Liebe und Vertrauen zu handeln…
Danke für diese wunderbar geschriebene Kolumne <3
Anne says
Danke für deine neuen Blogeinträge, ich lese deinen Schreibstil einfach so gern! Er hat so viel Tiefe und lässt mich gleich viel intensiver die Emotionen spüren, über die du sprichst. Danke für die Inspiration in so vielen Dingen! Ich hätte nichts gegen ein neues Buch einzuwenden 😉😁
Marie Luise Ritter says
Mal sehen, vielleicht gibt es irgendwann mal ein neues …
Anonymous says
Liebe Luise,
danke für diesen wunderbaren Beitrag. Ich bin aus der Kleinstadt aufs Dorf, dann in die Großstadt und wieder zurück aufs Land gezogen und sehne mich gerade wieder nach mehr Stadt und ihrer Lebendigkeit. Es ist der Wunsch nach Gegenpolen, denke ich und eine Frage der aktuellen Lebensaufgabe. Das Mich-Verbinden mit Menschen ist wesentlich für meine Dasein. Ich muss nicht an einem Ort bleiben, Bindungen zu Menschen haben in meinem Leben auch über große Entfernungen Bestand. Und das ist ein sehr schönes Gefühl.
Bettina