LUISELIEBT

Ein persönliches Lifestyle Tagebuch

  • KOLUMNE
  • BLOG-ARCHIV
    • PERSOENLICH
    • SCHREIBEN
    • REISEN
  • PRESSE
GROSSSTADTKOLUMNE

Wovor laufen wir weg?

28 Feb 2021

“Du läufst immer weg”, stellte er nüchtern fest.
“Ich? Wovor denn?”
“Das weiß ich nicht. Aber du läufst weg, immer wenn wir uns streiten. Dann knallst du die Tür zu und gehst, oder setzt dich ins Auto und fährst weg.”
Wir hatten uns gestritten, erst gestern. Es war belanglos, aber unsere Uneinigkeit machte mich erst so hilflos und dann so unruhig, dass ich mir meine Autoschlüssel aus der Schale im Flur schnappte und lautstark die Tür hinter mir ins Schloss fallen lies. Meine Schritte überschlugen sich fast, während ich die Treppen hinuntereilte und erst wieder durchatmete, als ich unten im Auto den Motor startete. Mir wäre das nie so aufgefallen, hätte er mich nicht darauf hingewiesen. Es war eine Routine, die mir in Fleisch und Blut saß. Erstmal weg. Mich in Bewegung bringen. Eine unangenehme Situation zu verlassen, war für mich eine völlig logische Reaktion. Mein Körper handelte dabei so intuitiv, dass ich nicht einmal darüber nachdenken konnte. Den genauen Ablauf, oder warum ich das tat, hatte ich nie hinterfragt. Ich zog mich aus Situationen raus, wenn sie mich unwohl fühlen ließen. 

Aber war das die richtige Art und Weise, mit den
Dingen umzugehen?
— Fragen, die wir uns -vielleicht?- irgendwann stellen.

“Wir streiten unterschiedlich. Und ich würde mir wünschen, du würdest bleiben. Ich fühle mich nicht wohl damit.”
— Dinge, die wir meist erst zu spät kommunizieren.

in Bewegung

Zuvor.
“Wohin willst du denn jetzt schon wieder? Bist du wieder auf der Flucht?” Ich spürte, wie meine Mama am anderen Telefonende die Augen rollte.
“Ich probiere halt mal etwas Neues aus. Not all those who wander are lost, Mutti”, zitierte ich ein dämliches Pinterest-Zitat, während ich mit meinem Zeigefinger an der porösen Dichtung meiner Balkontür pulte. Die Wohnung hatte ich gerade gekündigt. Es war Zeit für eine Veränderung. Für neue Abenteuer.
Es war 2014 oder 2016 oder 2018. Diese Unterhaltung würde zu jedem dieser Jahre passen.

 

 

 

 

“Was?”
“Nichts.”
“Kannst du nicht einfach
mal irgendwo bleiben?”
Ich weiß es nicht, dachte ich.
“Ist das nicht egal?”, sagte ich.

“Ich war immer schon auf dem Sprung, nie gekommen, um zu bleiben. Ich kannte es nicht anders.”, tippte ich ein Jahr später in das Manuskript von ‘Vom Nichts suchen und Alles finden’ auf Seite 103.

nie gekommen, um zu bleiben

Ich fühlte den Song in mir kribbeln und die Energie in mir aufsteigen. Ich musste mich bewegen, sofort. Also schnürte ich die Laufschuhe und trabte die zweihundert Meter runter in Richtung Alster. Als der Song Fahrt aufnahm und sich seinem Refrain näherte, fing ich an zu sprinten. Meine Füßen schlugen in schnellem Takt auf dem harten Waldboden auf, berührten ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde. Ich merkte meine Lungen pochen und atmete wieder richtig tief ein, während ich das Tempo rausnahm und wieder anzog. Ich sprintete so schnell ich konnte, merkte wie mein Kopf heiß wurde, und die eisige Luft gegen meine Stirn prallte. Die Musik tat ihr übriges, ich fühlte mich unheimlich lebendig. Als könnte ich jede Faser meines Körpers verstehen und kontrollieren. Es war ein kalter Morgen im Oktober und der Nebel hing noch tief über den Alsterwiesen. Die Sonne kämpfte sich nur mühsam über den Häuserzügen Uhlenhorsts hervor.

We had a place that we could call home
And a life no one could touch

[Chorus]

Don’t hold me up now
I can stand my own ground
I don’t need your help now
You will let me down, down, down!

Meine innere Unruhe legte sich wieder, nachdem ich sie herausgelassen hatte. “Kannst du nicht einfach mal irgendwo bleiben?”, pochte wiederkehrend in meinem Kopf, während ich die Wohnung im ersten Stock nahe der Alster aufschloss. Konnte ich denn? Konnte ich nicht? Und wenn, war das etwas schlimmes? Ich langweilte mich schnell, so viel stand fest. Deswegen zog ich weiter, bevor Langeweile aufkommen konnte. Ich wollte die Welt sehen, reisen, in unterschiedlichen Städten wohnen. Wieso sollte ich bleiben, Wurzeln schlagen, wenn ich genauso gut leicht und frei und in Bewegung bleiben konnte? Eine innere Unruhe und so viel Energie in mir: Ich war hungrig auf mehr. 

Ich liebte die Welt, wenn sie laut war. Ich tanzte zu derbem Techno bis sechs Uhr morgens, den ich in meinem Brustkorb vibrieren spürte, mochte die Hektik der Großstadt am Nachmittag, das laute Summen vieler sozialer Kontakte. So viel Mate oder Red Bull in meinen Drinks, dass ich morgens dann nicht einschlafen konnte. Mein Herz raste, und ich raste mit. Wer immer unterwegs war, schaffte es auch, seine Gedanken nie wirklich zum Stillstand kommen zu lassen. Wie Sand, der ständig aufgewirbelt blieb. Langeweile war für mich etwas Schmerzhaftes, und ich hatte das Gefühl, dass mir keine Zeit dafür blieb. Dass der Zeitraum, der mir und uns allen auf dieser Welt blieb, generell viel zu kurz war. Also nahm ich in mich auf, wie in einem durchgehenden Rausch. Getrieben von der Angst, Zeit nicht genug genutzt zu haben. Jeder Tag ein eigenes Geschenk, das ich auskosten wollte. 

Durch ständige Veränderung, immer wiederkehrende Neuanfänge, Umzüge, schaffte ich es, nie Ruhe in meinem Leben einkehren zu lassen. Ich lenkte mich davor ab. Immer wenn es zu gemütlich wurde, zog ich mich raus. Ich wollte nicht ankommen, nicht sesshaft werden. Ich wollte rennen. So weit und schnell ich konnte. Meine Zwanziger waren davon geprägt. Nie gekommen, um zu bleiben, immer eher, als würde ich an einer Raststätte parken. Nur ein kurzer Halt hier, okay? Eingeschalteter Warnblinker. Ich habe zu viel Energie. Ich will dann weiter.

Erst mit meiner Knieverletzung vorletztes Jahr, mit dem nicht-mehr-rennen-können, fiel mir auf, wie sehr ich das gebraucht hatte. Und wie wenig ich mich in diesem Stillstand wiedererkannte. Er tat richtiggehend weh. Nicht nur in meinem Knie. Ich blieb abrupt stehen. 2020 war dann das erste Jahr, in dem ich lernte, auszuhalten. Und plötzlich war die Welt auch um mich herum ganz leise. Die Pandemie tat ihr übriges. Die Stille war erst schmerzhaft, dann lernte ich mit ihr zu leben, und irgendwann freundeten wir uns an. Und während ich in mir immer ruhiger wurde, in Streits plötzlich blieb und einem Blick standhielt, immer mehr diese Rastlosigkeit von meinen Schultern schüttelte, immer mehr erkannte, dass ich Zeit nutzte, auch wenn ich still stand: Blickte ich voll Bewunderung auf meine Zwanziger zurück. Denn auch wenn es von großer Langeweile zeugte, ein Leben in einer Stadt zu verlassen, das ich mir vier Jahre lang aufgebaut hatte, um in eine noch größere Stadt zu ziehen, weil es mich in ein neues Abenteuer zog (und vielleicht weil wir auf der Wiesn zuvor darüber Schnick-Schnack-Schnuck gespielt hatten und Berlin gegen München gewann, aber das ist eine andere Geschichte …) – bewunderte ich rückblickend meinen Mut und meine Spontanität. Einfach so einem Impuls zu folgen. Insgeheim wissen wir, dass sich im Grunde nichts ändert, wenn wir an einen anderen Ort gehen. Denn wir nehmen uns immer selbst dabei mit.

Und vielleicht war es das, was mir schon immer eine so große Sicherheit gab.
Ich war immer in Bewegung – vor allem auch, weil ich es sein wollte.

Vielleicht laufen wir nicht weg. Vielleicht finden wir uns bloß. Überall einen Teil von uns. Und kommen dann zurück. Immer wieder.

»Als ich von Hamburg nach Berlin gezogen bin, haben das ganz viele nicht verstanden«, eröffne ich ihm. »Ich habe das ja selbst nicht so richtig verstanden. Es war nur so ein Gefühl, dass man mal weggehen, aber ja auch wiederkommen könnte. Eigentlich bin ich nur einer Intuition gefolgt.«
»Und jetzt sitzen wir hier«, ergänzt er und lächelt.
»Denkst du, das ist sprunghaft gewesen? Oder abenteuerbereit? Ist es der Intuition folgen oder weglaufen, weil man sich langweilt? Es gibt da so viele Möglichkeiten, wie man sich selbst interpretieren kann, irgendwie. Eigentlich fand ich es voll gut, alles. Und dann kamen andere und haben mich verunsichert, mich rastlos und sprunghaft und durchgedreht genannt. Vorher habe ich einfach nur gewusst, da ist diese Intuition und der gehe ich nach. Die Welt steht mir ja offen, ich bin jung und ungebunden. Ich wäre nie auf diese Einschätzung gekommen, diese vielen komischen negativen Auslegungen. Wieso lasse ich mich überhaupt so verunsichern, wenn ich dahinter steh.« Ich stütze meinen Kopf in die Hände. Er lacht.  

»Ich glaube, man kann das positiv oder negativ auslegen. Und egal wie, du liegst immer richtig damit.« Ich denke über seine Worte nach und höre dabei nicht auf, ihm in die Augen zu sehen. Bis auf die zwei, drei Mal blinzeln. »Du kannst es so beschreiben, dass du wegrennst, dass du rastlos bist, dass du dich zu schnell langweilst und nie tief genug gehst, weil du ohne Wurzeln durch die Welt rennst. Dass du immer nur den nächsten Kick suchst, weil du dir selbst nicht genug bist, dass du versuchst, etwas Tieferem durch niemals aufkommende Langeweile keine Chance zu geben, ans Tageslicht zu kommen.« Seine Beschreibung passt haarscharf, und mir kommt Gänsehaut von der Präzision seiner Wortwahl. »Du kannst aber auch sagen, dass du dich in jeder Umgebung schnell zurecht findest. Dass du dir nie durch festgefahrene Prinzipien selbst im Weg stehst. Und dass, wenn eine Chance kommt, du diese immer ergreifst. Dass du dich mit jeder neuen Stadt in jedem neuen Job selbst ein bisschen kennenlernst. Dass du offener, toleranter und mehr du selbst wirst, je mehr du erlebst. Dass du dir niemals vorhalten wirst, einer Idee keinen Raum gegeben zu haben, dich nicht wirklich ausprobiert und kennengelernt zu haben. Du kennst dich. Du lebst für dich. Und, es sind deine Zwanziger, meine Dreißiger. Die sind ja wohl fürs Ausprobieren da. Letztendlich kann man alles auf diese beiden Arten auslegen. Und am Ende ist es doch egal, was andere denken, Hauptsache deine Entscheidung kommt dir selbst richtig vor. Und wenn sie das in einem Jahr nicht mehr tut, gehst du halt wieder zurück. Ich zu meinem Job, du in diese andere Stadt. Völlig egal, was andere sagen, du lebst doch nur für dich. Letztendlich ist es realistisch betrachtet wohl immer eine Mischung aus beidem, aus der positiven und der negativen Auslegungsweise – weil du dich meist zwischen Abenteuer und Wurzeln entscheiden musst. Aber du entscheidest, was mehr Platz in deinem Leben hat.«
»Ich mag, wie du die Welt siehst«, platzt es aus mir heraus. Den Rest denke ich mir, ohne ihn auszusprechen: Du siehst sie genauso wie ich. Und ich sehe sie durch dich noch ein bisschen klarer. 

Aus: Tinder Stories, Seite 208 

Ich konnte schlecht bleiben. Ich lerne es gerade erst. Vielleicht muss beides in gesunden Anteilen vorhanden sein: Aushalten und wieder loslaufen. Einen Fuß vor den anderen. Leise, gleichmäßige Geräusche, Rascheln von Blättern, stumpfes Aufsetzen und Abrollen. Wie ein rhythmisches Klopfen auf dem unebenen Waldboden.

Ich laufe wieder. Immer nur drei oder vier Kilometer. Es reicht. Hauptsache: In-Bewegung-sein. Denn, wenn wir weglaufen … laufen wir dann nicht auch immer irgendwo hin?

by Marie Luise Ritter / 6 Comments [addtoany]

Comments

  1. Annerose says

    28 Feb 2021 at 19:51

    Liebe Luise, diese Kolumne traf mich unvorbereitet und mitten ins Herz. Eigentlich wollte ich eine Sprachnachricht meiner Tochter abhören, wie ihr heutiges Tinder Date gelaufen ist…😉 Und weil mir das so wichtig ist und um mich vorher zu beruhigen und wegen Prokrastination und so, (du weißt schon), habe ich erst deine überraschende Kolumne gelesen. Und es hat mich wieder so tief berührt, was du schreibst und wie du das tust, dass ich jetzt einen Kommentar an dich verfasse und immernoch nicht weiß, was Amelie heute bei ihrem Date erlebt hat…
    Ich habe schon 56 Jahre Lebenserfahrung und bin junggeblienene Mama von drei erwachsenen Kindern. Durch Amelie, mein jüngstes Kind mit 27, folge ich dir und fühle mich dir inzwischen auch sehr nahe. Ich lese gern und habe auch schon Manches konsumiert in meinem Leben. Und natürlich ist man dann auch etwas zögerlich bei sehr jungen Autoren. (Und dann noch mit einem “Tinder” -Debüt…🤣) Ich habe beide deiner Bücher mit so viel Spannung und Genuss gelesen und schon zwischen dem ersten und zweiten eine große Entwicklung empfunden, sowohl inhaltlich (naturgegeben) , alsauch stilistisch. Ich möchte einfach nur Danke sagen, dass du uns teilhaben lässt, an deinem Leben und Lieben: so authentisch, poetisch, ehrlich und wertvoll. Und deinem Motto immer treu bleibend: luiseliebt. Danke, danke, danke dafür! 🙏🏼💃😇

    Antworten
    • Marie Luise Ritter says

      28 Feb 2021 at 21:10

      Liebe Annerose, ich habe mich unheimlich über deinen persönlichen Kommentar gefreut, weil er so wertschätzend ist, dass es mich gerade sehr getroffen und berührt hat. Mir bedeutet es viel, auch Frauen mit meinen Büchern erreichen zu dürfen, die nicht in exakt meinem Alter sind, sondern ein ganz anderes Leben leben, und sich dennoch etwas mitnehmen können oder Freude daran haben. (… und ich hoffe, Amelies Date war schön, haha!). Alles Liebe, Luise

  2. Katha says

    1 Mrz 2021 at 08:39

    Wow… ersteinmal: ich freue mich immer wieder über jeden neuen Beitrag und etwas von dir zu lesen …
    Du sprichst mir aus der Seele! Erkenne mich selbst so oft wieder in dem, was du schreibst.. und erinnerst mich immer daran, nicht auf andere negative Meinungen und Einstellungen zu hören sondern auf die eigene Intuition zu hören und das zu machen, wonach sich das Herz sehnt … danke dafür ❤️

    Antworten
  3. Anni says

    2 Mrz 2021 at 07:50

    So eine unglaublich schöne Kolumne ☺️ Ich liebe deinen Schreibstil und du sprichst Themen an, die mich (28) genau treffen

    Antworten
  4. Linda says

    4 Mrz 2021 at 23:38

    Hallo Luise,

    Dieses Vertrauen einfach Impulsen zu folgen ist bewundernswert und macht mir persönlich auch Angst. Ich habe oft viel zu viel Bedenken einfach drauf los zu laufen oder nicht zu wissen was mich erwartet. Am Ende kann ja eigentlich nicht viel passieren.. oder eben ganz viel.

    Ich hoffe ,ich laufe auch noch ganz viel weg zu etwas Neuem hin..

    Grüße, Linda

    Antworten
  5. Aylin says

    6 Mrz 2021 at 09:16

    Liebe Luise,
    vielen Dank für diese wundervolle Kolumne. ❤️ Wie schon einige andere Texte von dir hat sie es wieder einmal geschafft, mich zu berühren, mich darin (teilweise) wiederzufinden und zum nachdenken anzuregen. Ich bin seit Jahren in einem immer wieder aufkommenden inneren Kampf mit mir, ständig neue Städte auszuprobieren und möglichst viel mitzunehmen und andererseits auch einem starren Wunsch, eben doch mal irgendwo anzukommen, zur Ruhe zu kommen, doch mal mehr als nur 1-2 Jahre an einem Ort zu planen. Jetzt kommt noch eine Partnerschaft hinzu, die das Ganze natürlich nicht einfacher macht..
    Ich habe seit Ewigkeiten beide deiner Bücher ungelesen bei mir liegen, das war gerade nochmal ein wundervoller Tritt in den Hintern, sie endlich mal zu lesen. Nicht nur, weil es an sich bestimmt tolle Bücher sind, sondern auch weil ich das gerade Gefühl habe, aus ihnen Inspiration und Denkanstöße ziehen zu können, die ich gerade dringend brauche.
    Danke für all deine Texte und alles Liebe für dich.
    Aylin

    Antworten

Schreibe einen Kommentar Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Copyright © 2021 Luiseliebt. Design made by MunichParisDesign