Wenn ich meiner Mama erzähle, dass ich nachts alleine von der Reeperbahn die fünf Kilometer bis zu mir nach Hause gelaufen bin, dass ich regelmäßig auf Dächer von Altbauhäusern klettere, um den Sonnenuntergang zu sehen, dass ich mich mit fremden Menschen treffe, die ich aus einer Date-App habe, dass ich nachts alleine durch mein Viertel spazieren gehe, wenn ich nicht schlafen kann, dann kriegt sie regelmäßig einen Herzkasper. “Wie kannst du nur, das ist doch voll gefährlich.” Das Leben in der Großstadt findet sie gruselig. “Du bist nur so naiv, weil dir noch nie etwas schlimmes passiert ist”, sagt sie dann immer. Und das kann sein. Mir ist noch nie etwas passiert. Zumindest nichts, mit dem ich nicht umgehen konnte.
Ich habe mich letztens mit jemandem, den ich an dem Abend kennengelernt habe, über Ängste unterhalten. Wie sie entstehen und warum wir sie mit uns rumtragen. Warum wir uns über Situationen Gedanken machen, die nur Theorie sind. Wieso wir das Leben im Kopf durchspielen, statt es passieren zu lassen. Ob man mit Ängsten oder ohne leichter durchs Leben geht. Er hat Angst vor tiefem, dunklem Wasser, am meisten. Und geliebte Menschen zu verlieren. Jeden Tag. Ich musste sehr lange überlegen, wovor ich Angst habe. Ich habe zum Glück nicht sehr viel Angst, zumindest nicht diese typischen – Spinnen, Schlangen, Höhen, Tiefen, Dunkelheit, Prüfungen, Zukunft. Ich mache mir generell eher zu wenig Sorgen als zu viele. Ich glaube außerdem, wie viel Angst man hat, darüber hat man gar nicht mal so viel Macht – wie ängstlich wir sind, liegt in unserer Natur.
Unabhängig davon: Ich glaube inzwischen, dass man relativ unängstlich sein muss, um richtig unbeschwert durchs Leben zu gehen. Oder eben naiv. Oder andersrum: Hätte ich mehr Ängste und Berührungsängste, wäre ich misstrauischer, würde ich nicht spontan alleine nach Dänemark auf ein Konzert gehen, würde nicht alleine in Porto Urlaub machen, würde nicht so unabhängig und frei leben können, würde seltener neue Menschen kennenlernen … Und: Wie anstrengend wäre es, bei jedem Schritt, den man tut, abzuwägen, was einem dabei alles passieren könnte? Ich beschäftige mich mit Situationen dann, wenn sie da sind. Klar, ich könnte ausgeraubt werden, ich könnte mich verlaufen, ich könnte in einen Graben fallen und niemand findet mich oder mein Flugzeug könnte abstürzen. Aber, was, wenn mir, wie in 99% der Fälle, keines dieser Dinge passiert – wie viel Gehirnkapazität habe ich dann unnütz mit irgendwelchen Ängsten verschwendet? Ich glaube, dass man sich mit diesen theoretischen Situationen, die man sich in seinem Kopf zusammenbettelt, einfach auch ganz viele schöne Momente kaputt macht.
Dass ich unfassbar naiv bin, höre ich ziemlich oft. Kann sein.
Ich bin naiv, weil ich jedem Menschen neue Chancen gebe. Auch Freundinnen, die mir gar keinen Grund dazu geben.
Ich bin zu Menschen nett und freunde mich mit ihnen an, obwohl alle vor dieser unberechenbaren Person warnen.
Ich denke bei jedem neuen Mann, der in mein Leben kommt, dass das jetzt die richtige Person ist, ohne dagegen aufzuwiegen, wie die letzten 12 Jahre mit diversen Männern so gelaufen sind. Ich denke grundsätzlich von jeder Situation, von jedem Menschen, nur das beste.
Und wenn sich jemand bei mir entschuldigt, dann gehe ich davon aus, dass er das ehrlich meint.
Jap, ich bin naiv.
Und wenn ich so darüber nachdenke, finde ich das ziemlich gut, so ein naiver Mensch zu sein. Es hat mir zwar schon viel Blödsinn beschert, wenn ich mal wieder zu gutgläubig war – aber noch viel öfter hat es mir das Leben definitiv vereinfacht und den größten Spaß eingebracht.
Als ich letztens mit Anna um den Weiher in Eimsbüttel spaziert bin, versuchte ich in Worte zu fassen, und fand, traf es mit dieser Metapher ganz gut: Ich gehe ohne Rucksack durchs Leben. Ich nehme nicht alles, was passieren könnte, alles, was schon einmal passiert ist, in einem kleinen Rucksack mit mir mit. Ich bin einfach da, mit leichtem Gepäck. Oder ohne Gepäck. Wer schon einmal tanzen war, ohne Tasche oder Rucksack dabei zu haben, einfach nur so, der wird dieses Gefühl gut nachvollziehen können. Wie leicht und frei man sich dann fühlt. Habe ich viele Nächte letzten Monat so gemacht. Haustürschlüssel und Bargeld in der vorderen Hosentasche, Bahnticket in der Handyhülle drin, Handy in der Jackentasche – thats it. Keine Handtasche um mich herum.
Und wenn mir das Herz gebrochen wurde, und das wurde es schon sehr oft, dann gebe ich mir die Zeit, einige Monate oder ein Jahr vielleicht, durchlebe eine wirklich harte Zeit, um zu verarbeiten aber dann lasse ich mir nicht das restliche Leben davon kaputt machen. Ich bleibe trotzdem naiv. Ich trage die Steine im Rucksack nicht weiter mit mir mit und kippe sie zukünftig jedem anderen vor die Füße – ich suche mir die Muscheln raus, ich lerne daraus, über mich und über andere, ich weiß danach noch besser was ich will, und ziehe mit leichtem Gepäck weiter. Leichtes Gepäck.
Ja, das bin ich: Unbeschwert und furchtlos. Naiv, realitätsblind und viel zu romantisch. Und das ist genau, wie ich mir wünsche, die Welt für immer zu sehen. Weil es so unfassbar schön ist.
Mary-Ann says
Ich glaube, die Welt wäre ein besserer Ort, wenn wir alle etwas naiver wären. Danke, dass du mich immer wieder ermutigst, einfach mal los zu lassen. Ich hoffe, du behältst dir diese Sicht auf die Welt ein Leben lang. :)
Tamara Zeller says
Hallo Luise, es tut gut ein Stück von deiner Naivität mit auf den Weg zu bekommen. Ich denke heutzutage ist alles eher versteift und zu vorsichtig und malt sich alles in 100 verschiedenen Situationen aus und dann passiert 101. Danke das du uns daran teilhaben lässt und einem zum Nachdenken anregst. LG
Melanie says
Hmm schön. Ich bin leider ein sehr ängstlicher Mensch. Wäge ständig ab und zerdenke zu viele Momente. Ich wünsche mir oft etwas naiver zu sein. Mir ist nämlich auch noch nie was wirklich schlimmes passiert. Ich habe alles, was mir bisher passiert ist, gut überwunden und trotzdem ist diese Angst da. Und manchmal, da wünsche ich mir, diese Angst wie einen Rucksack einfach abzulegen und ganz leicht weiter zu gehen.
marina says
ich mag dich so. wir haben so vieles gemeinsam. toll dass du alles immer so gut in worte fassen kannst! danke!
Dani says
Ach ja.. wie oft auch ich das schon gehört habe. Zuletzt von meiner Chefin “Sie sind so kindlich naiv. Ihnen ist wohl noch nie etwas wirklich schlimmes um die Ohren geflogen”. Nope. Und nu? Soll ich nun nicht mehr naiv sein? Immer mit einer “Vorsicht-Haltung”. Grundsätzlich alles schlecht sehen? Immer die “Gefahr” erkennen? Leider nein, leider gar nicht. Da bin ich lieber kindlich naiv und erfreue mich an den Dingen und glaube weiterhin daran, dass alle Menschen gut sind. Und selbst wenn sie es mal nicht sind, wird es schon einen guten Grund geben. Ich bin glücklich, dass mir noch nie etwas schlimmes passiert ist. Und deshalb werde ich diese Naivität weiterhin ausleben. Dein Text ist toll. und ich finde es toll, wie du bist ♥
Marie Luise Ritter says
Oh wie schön, Dani! Toll <3
Anna says
Füge mutig dazu. Ich finde es ist mutig, sich keine Angst machen zu lassen von all den ängstlichen Menschen um einen herum. Mutig sein, einfach mal zu machen, egal welchr Konsequenzen es haben könnte. Du bist mutig. Und vielleicht ein bisschen naiv, das ist aber sicher auch gesund ;) Einfach mal machen. So is richtig.
Liebe Grüße
Anna
Charly says
Luise, wie schaffst du es bitte nur, so schön zu schreiben? Wieder ein ganz besonders toller, schöner Beitrag!
Ich möchte dir übrigens mal danke sagen. Seitdem ich dir bei Instagram folge und dein Mindset mir so gut gefällt, gehe ich viel glücklicher, sorgenfreier und vielleicht auch naiver durch die Welt.
Hab eine wundervolle Restwoche!
Liebe Grüße aus Berlin
Charly
Marie Luise Ritter says
Oh wow – danke! Das bedeutet mir wirklich viel. Liebe Grüße an dich
Aileen says
Liebe Luise, ich bin da sofort deiner Meinung!
Meine Mutter hat auch sehr viele Ängste, geht super pessimistisch durchs Leben und ich bin sooo froh, dass ich mich als Teenie davon so abgeschirmt habe und diese Ängste nicht angenommen habe. Ich bin vielleicht auch so naiv, wie du, aber ich traue mich so vielleicht auch mehr als meine ängstlicheren bzw. “verkopften” Freunden.
Ich wünsche, dass du weiterhin so naiv und weltoffen bleibst, wie du es dir vorstellst und vornimmst!
Alles Liebe