“Eine schöne Geschichte. Was für den Kopf gerne”, erzähle ich dem freundlichen Menschen in diesem Buchladen, der bis unter die Decke vollgestopft ist mit ungefähr jedem Buch, das jemals erschienen ist. Nur das, was ich in dieser ersten Woche des neuen Jahres eigentlich lesen wollte, hat er nicht da. Vom Ende der Einsamkeit. Was ähnliches wie Wells? Er drückt mir Suter und Irving in die Hand, jede Menge verschiedene Geschichten, Lila Lila ist sein Favorit. Ich entscheide mich für Der Koch und Vincent, Kopffutter für die ersten zwei Wochen in 2019. Weil, jede Woche ein neues Buch vielleicht, triumphiere ich beim kläglichen Versuch, doch noch ein Ziel, eine Aufgabe für 2019 zu finden, aber er winkt ab: Quatsch, Suter liest man locker weg, das hast du in nicht mal zwei Tagen durch. Bei ihm klang ein Buch auslesen wie ein angefangenes Getränk zu beenden. Schlürf, schmatz, fertig. Dabei hatte ich im letzten Jahr Mühe gehabt, überhaupt irgendetwas zu beenden, konnte mich nur schwer konzentrieren, erst recht nicht ein Buch die Woche. Kaum eine Lektüre hat mich wirklich gecatcht – oder ich wollte mich einfach nicht catchen lassen. Mein Kopf woanders, nicht bereit, mich einzulassen. In so vielen verschiedenen Hinsichten.
Als ich das erste Mal ins No fire no glory an die Theke trete, mit dem Ziel eines Haferlattes, eines Bananabreads und von 100 gelesenen Seiten, bin ich nicht darauf vorbereitet, mit “already know what ya eatin?” angesprochen zu werden. Redest du mit mir englisch, weil du davon ausgehst, dass ich kein deutsch spreche, oder redest du englisch, weil du kein deutsch sprichst? In dem kleinen Moment der Zwickmühle, in dem ich mich frage, in welcher Sprache ich jetzt antworte und mich aus Höflichkeit für Englisch entscheide, fällt mir auf, wie oft und wie viel hier englisch geredet wird. Jedes zweite Tinder Match ist nicht deutschsprachig, in jeder Bar sind die Konversationen, die man so mithört bis überhört auf englisch, wenn ich in meinem Wohnhaus ein Paket bei einem Nachbarn abhole frage ich auf englisch danach, englisch ist hier so normal wie es in Hamburg der Alsterspaziergang auf dem Sonntag war. Und nach kurzer Verwunderung fühle ich mich mit dieser sprachlichen Veränderung in meinem Alltag sehr, sehr wohl.
Auf dem Weg zu unserem Bierdate auf der Eberswalder komme ich an ungefähr siebzehn Falafel- und Dönerläden vorbei, einer kratzt dann doch an meinem Interesse, weil mit veganen Falafeln geworben wird. Sind die nicht immer vegan? Egal, ich gehe rein. Ich habe noch 22 Minuten Zeit bis zum Date und echt großen Hunger. Beschwingt laufe ich rein und scanne kurz das große Leuchtmenü über der Theke. Falafel bitte, murmele ich dann, ich weiß ja eh, was ich will. Pita oder Wrap? Ähm, Wrap? Setz dich ruhig kurz, ich mache die Falafel ganz frisch. Und nimm dir ruhig einen Tee, ist frei, ermutigt Ferhat mich. Ich verneine dankend. Weil ich nicht weiß, ob mir der Tee schmeckt, weil er doch vielleicht bitter sein könnte, und weil ich auch keinerlei Ahnung habe, wie man dieses silberne Gerät bedient, das original wie aus einem Aladinfilm aussieht. Mein Nein kränkt ihn. Er kommt um die Theke rum, fragt mich, ob ich neu hier bin.
Hier in Berlin? Hier im Falafelladen? Er grinst und auf seinem noch jungen Gesicht bilden sich jede Menge Lachfalten. Ich antworte einfach Ja, und er fühlt sich ermutigt zu einer ausführlichen Erklärung. “Schau, das hier oben ist schwarzer Tee, je nachdem, wie stark du es brauchst, füllst du ungefähr so viel in das Glas. Dann Zucker und dann erst heißes Wasser. Aus diesem Hahn hier unten.” An der Theke staut sich die neue Kundschaft, er ruft etwas Unverständliches in die Küche, dann tritt jemand anderes an die Theke. Ferhat bleibt bei mir am Tisch neben der Teemaschine sitzen. Wir haben eine der besten Unterhaltungen. “Wieso sind alle in Berlin so nett?” frage ich ihn erstaunt, er lacht nur. Dit is Berlin. Willkommen, und prostet mir zu. Zu meinem Date komme ich zehn Minuten zu spät.
Ich habe noch nie in kurzer Zeit so viele neue Menschen kennengelernt wie in den zwei Monaten, die ich jetzt so wirklich in Berlin lebe. Sie lerne ich auf meiner eigenen Silvesterparty kennen, sie ist bei einer spontanen Kaffeerunde mit dabei, er setzt sich beim Frühstücken und Arbeiten vorm Café neben mich, er hilft mir im Späti mit den letzten zehn Cent aus, er hilft mir im Club hoch auf die Box und am nächsten Tag auf dem Flohmarkt ein neues Partyoutfit zu finden, sie stellt mir diese wirklich coole neue Weinbar im Kiez vor. Immer wieder merke ich, wie viel ich mit mir völlig fremden Menschen gemeinsam habe. Die Einsamkeit in den Menschen ist vor allem vor der blassen Anonymität dieser Großstadt allgegenwärtig – aber es war noch nie irgendwo so leicht sie zu überwinden wie hier. Kein Abend Ausgehen vergeht, ohne dass ich jemand Neuen kennenlerne, vorgestellt werde, von einer Idee angefixt oder mich neu verabrede. Tatsächlich scheint Einsamkeit hier wie eine Illusion. Auf den ersten Blick so einsam, sind doch alle hier miteinander verbunden, nur ein kurzes Hallo, ein offenes Lächeln entfernt. Wenn man sich denn einlassen will. Und das will ich.
Völlig verkatert trete ich am nächsten Morgen vor die Tür, wir trinken noch einen Kaffee am nächsten Späti, als wir rausgehen, geht endlich so richtig die Sonne auf. Inzwischen ist es um zehn. In dieses warme Licht, in das die Kreuzung auf einmal getaucht ist, sieht das hier so unschuldig aus, diese stark befahrene Ecke voller mieser Kneipen mit Bier für zwei Euro, der griechischen Taverne, die nie wirklich voll besetzt ist, den veganen Läden und den Spielcasinos und Späti an Späti. Alles leuchtet auf einmal ein bisschen, der Verkehr wirkt viel weniger aggressiv und diese Großstadt auf einmal heimelig und warm. Es sind minus drei Grad.
Seit ich in Berlin wohne, habe ich zwanzig Zentimeter Haare, zwölf Säcke Klamotten und vier Kilo an Gewicht verloren. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, dass es mal eine Zeit gab, in der ich nicht vegan gegessen habe. Und dann so viel weggehen, obwohl Januar ist. Mir macht die Kälte zum ersten Mal seit Jahren nichts aus, bemerke sie oft nicht mal. Gestern fühlt sich an wie ein weit entferntes anderes Leben. Und ich bin noch nicht einmal drei Monate hier. Ich glaube Veränderungen sind nicht linear, sie kommen so in Wellen, und gerade überrollt mich eine nach der anderen.
Lea says
Gerade so gerne gelesen. So schön geschrieben! Bitte mehr in diesem Stil.
Lea
Alina says
Sehr schön zu lesen, wie herzlich Berlin dich aufnimmt und wie sich dein Geist duch die Stadt beflügeln lässt! Ich überlege gerade selbst, nach einer beendeten Beziehung und einem unglücklichen Arbeitsverhältnis, nach Berlin zu ziehen und dort mit einem Master eine andere berufliche, und mit der neuen Stadt in eine andere persönliche Richtung einzuschlagen. Dein Beitrag ermutigt dazu ungemein! :)
Kathi says
Ich mochte diese Magie von Berlin schon immer. Du hast die toll in Worte gefasst <3
Karo says
Liebe Luise, ich mag diesen Beitrag sehr! So herzlich authentisch und hoffnungsvoll menschlich. Und er zeigt: Wie man in den Wald hineinruft – so schallt es auch heraus.
Alles Liebe!
Marie Luise Ritter says
ja ganz genau :) Dankeschön
Rieke says
Sehr schöner Text! Ich sollte mir wohl irgendwie ein Beispiel an dir nehmen… Ich bin seit vier Monaten in Berlin, finde die Menschen unfreundlich und es allgemein sehr schwer hier Leute kennenzulernen. Mag aber vielleicht auch daran liegen, dass ich Hamburg nicht freiwillig den Rücken gekehrt habe, mein Herz noch dort hängt und nicht mit in die Hauptstadt gekommen ist.
Marie Luise Ritter says
So ging es mir am Anfang in Hamburg auch. Alles beginnt irgendwie im Kopf, in jeder Stadt findet man das, was man sucht oder das, worauf man sich einlassen will – denke ich.
Anna says
Liebe deinen Stil!
Nadja Spiegel says
So ein schöner Blogbeitrag. So alltägliche Momente und besondere Kleinigkeiten. Mehr von solchen authentischen, vielschichtigen und gleichzeitig leichten Blogbeiträgen bitte! :-)
Clair says
Willkommen in Berlin <3
Ich bin seit 1,5 Jahren hier. Und ich musste beim Lesen oft schmunzeln.Habe mich wiedererkannt hihi!
Cäcilia says
Einfach wunderoll, einfach inspirierend. Hab mir heute vorgenommen, entspannt in den freien Tag zu starten. Sitze jetzt hier mit Tee und dem Laptop und bin fasziniert, wie viel Sehnsucht nach Menschen kennenlernen, Feiern gehen, oder einem simplen Kaffeedate du mit den paar Wörtchen dort oben wecken kannst.
Gerne mehr solcher kurzen Alltagsanekdoten, gerne mehr in dem schlichten Sprachstil, geht leicht runter und macht gleichzeitig trotzdem den Kopf an und Lust aufs Leben.
Marie Luise Ritter says
Oh wie schön <3
Vanessa says
Ich würde jeden Roman von dir lesen, ich liebe deinen Stil. :)
Leider gehöre ich zu den Menschen, die sich sehr schwer tun andere Menschen kennen zu lernen, aber dein Artikel macht mir Mut, danke dafür :)
Sophie says
Ich liebe die Beschreibung der Stadt, dr Schreibstil war wirklich wundervoll und doch muss ich sagen, dass ich Berlin ganz anders sehe. Verschlossen, unfreundlich und ganz und gar nicht hilfsbereit. Jeder grummelt und ächzt, bei Fragen wird man komisch angesehen. Da beginne ich mich zu fragen: Was mache ich falsch?
Marie Luise Ritter says
Vielleicht dazu in einem der kommenden Texte mehr, aber ich glaube, dass speziell Großstädte oft ein Spiegel sind, beziehungsweise einfach das sind, was man selbst daraus macht?
Janine Lechermann says
Ich bin vor eineinhalb Jahren hierher gezogen und fühle mich auch so pudelwohl. Dein Artikel spricht mir voll und ganz aus der Seele – mehr davon! :)
Romy says
Toll geschrieben ♥ Ich hätte gern noch weiter gelesen – also bitte mehr solche Geschichten :)
Marie Luise Ritter says
Dankeschön und gerne :)
Anna says
Sehr schön geschrieben, aber ich schließe mich an: das ist auch für mich nicht typisch Berlin. Das ist Prenzlberg, veganer Touri- und Hipster-Hotspot, da fehlt die Berliner Schnauze. Was natürlich keineswegs heißt, dass es nicht auch dort fantastische Bars & Clubs gibt.
Marie Luise Ritter says
Natürlich schreibe ich das auf, was ich erlebe, das hat für mich nicht den Anspruch “typisch berlin” zu sein – vor allem, weil das ja jeder anders interpretiert, was für ihn jetzt das Zentrum des eigenen Alltags ist. Ich habe nur ein paar Geschichten aufgeschrieben vom Ausgehen und Leute kennenlernen und von der Freundlichkeit der Menschen, die ich hier erlebe – ich finde das könnte universell überall stattfinden. Und bitte nicht dieses Urberliner vs Neulinge Gehate ;)
Rieke says
Das ist einfach so, so schön <3
Alisa says
Liebe Luise,
ich liebe deine persönlichen Texte. Bitte mehr davon.
Bianca says
Hallo Luise, ich habe dein Buch in der Bücherei ausgeliehen, einfach nur aus Interesse und heut habe ich auf deinem Blog vorbei geschaut. Ich selbst habe zweieinhalb Jahre in Berlin gelebt und habe mich nie richtig wohl gefühlt, was aber wohl an mir selbst gelegen hat und meinen jungen 17 Jahren.
Ich liebe deinen Schreibstil, ich könnte einfach so unendlich weiter lesen, so authentisch geschrieben, einfach wunderschön. Ich komme bestimmt in Zukunft öfter mal bei dir vorbei geschaut.
Lieber Gruß, Bianca
Hanna says
Wirklich du schreibst so toll und ansprechend. Jede einzelne Zeile lese ich mit Vergnügen.Es freut mich, dass es dir in Berlin so gut geht und trotzdem finde ich es unheimlich schade, dass du aus Hamburg weggezogen bist. Irgentwie würde ich solche Artikel gerne mal wieder über Hamburg lesen oder immer, wenn ich an der Alster morgens zum Sonnenaufgang laufen bin, überlegen ob ich Penny und dir über den Weg laufe.
Nadine says
Liebe Luise, ganz ganz toll geschrieben! Ich bin zu oft zu genervt von meinem Umfeld und nehme die kleinen wunderbaren sachen gar nicht mehr auf. Ich sehne mich ebenfalls nach einer Veränderung nur das ich zu feige bin mich tatsächlich einer zu stellen.
Gerne würde ich auch Frei werden! Ich sehne mich nach Fernen Orten und habe mich jetzt dank deinen guten Festival Beiträgen eeendich auch für eins in meiner nähe entschieden!
Lisa says
Ich hatte Wonneschauer. Danke!
Alena says
Sehr schön geschrieben 😊
Ich habe viele Verwandte in Berlin und bin auch einmal im Jahr dort, aber mir gefällt es da gar nicht 🙈🙈
Zu voll, zu wenig Platz, zu wenig „echte“ Natur und viel zu aufdringliche Menschen. Aber so verschieden können Wahrnehmungen sein ☺️
Mona says
Schön geschrieben! Willkommen in der Hauptstadt und meiner Heimat ;-) Berlin kann charmant sein, kann einen anlächeln und vor allem einem selten das Gefühl von Einsamkeit vermitteln! Fühl dich wohl und lass dich treiben!
LG Mona
Nadine says
Liebe Luise,
Ich lese deinen Blog nun schon länger, verfolge deine Insta Storys, schaue deine Youtube Videos und lese dein Buch schon zum zweiten mal.
Ich lese deine Blogbeiträge manchmal mehrfach und jedesmal entdecke ich wieder etwas anderes in dienen Texten was mir nicht aufgefallen ist.
Ich habe deinen Text zum vermissen genau zur richtigen Zeit entdeckt und habe gemerkt das auch andere dieses fühlen.
Jetzt stehe ich vor meiner nächsten Entscheidung, dem Umziehen in eine Fremde Stadt.
Ich fand die Stadt schon immer schön, jedoch habe ich keine Freunde da… ich gehe gerne weg unternehme gerne Dinge weshalb ich auch froh währe Freunde da zuhaben.
Mich würde dazu ein Blogbeitrag von dir unterstützen wo du übers Leute treffen redest (nicht in die Tinder richtung habe einen Freund)
Tinder wird eben bei uns in der Schweiz auch kaum genutzt.
Wie hast du Berlin neu entdecken gelernt wie hast du dich integriert und wie bist du zu freunden gekommen?
alles liebe aus Zürich vielleicht bald Chur ;)
Tine says
Liebe Luise,
Man! Das hat mich echt berührt. Ich finde, dein Lebensgefühl kann man durch deine Worte hier so richtig schön in sich aufnehmen und aufsaugen und somit auch ein bisschen was von deinem Glück haben.
Mir ging es vor zwei Jahren, als ich aus meiner kleinen Heimatstadt nach Leipzig gezogen bin, genauso. Irgendwie hab ich mein Herz so schnell an diese neue Stadt und die Leute hier verloren und es mittlerweile als mein Zuhause angenommen, so wie du Berlin.
Irgendwie verrückt, wie man durch einen kleinen Ortswechsel nochmal eine ganz neue Seite an sich kennenlernen kann. Eine Seite, die für diesen Abschnitt im eigenen Leben viel besser zu einem Selbst passt und die man vermutlich nicht in sich gefunden hätte, wenn man diesen kleinen Sprung (in Form des Umzugs) nicht gewagt hätte.
Mit deiner kleinen Berlin Story hast du mich jedenfalls richtig angefixt – in zweierlei Hinsicht. Ich habe richtig das Bedürfnis während des Lesens entwickelt, sowas auch zu machen, mal die kleinen Momente und Glücksgefühle im Alltag niederzuschreiben und festzuhalten, weil das Erinnern dann noch viel schöner und lebendiger wird.
Und ich MUSS mir jetzt unbedingt dein Buch holen und es lesen. Dein Schreibstil ist irgendwie genau das, was ich gerade brauche! :)
Ganz ganz liebe Grüße
Tine