Ich stapfe hinter dem Hund her über die Wiese im Garten. Um mich herum ist das Grün überzogen von großen, gelben Löwenzahn-Köpfen und Gänseblümchen, die schüchtern dazwischen hervorwachsen. Hohe Kiefern und ein Ginkgo bewachen den Garten, die Sonnenflecken, die sie erlauben, spielen auf Haut, Sonnenliegen und Rasen. Gräser wachsen rund um die Feuerstelle in der Ecke, an die eine kleine Terrasse aus Holzdielen anknüpft.
Die Sonne scheint hier das ganze Jahr, die Gewitterfronten abgehalten, von den Ausläufern des Harzes, vielleicht. Pyramiden säumen das Stadtbild, auf die man an einem Tag jedes Jahr im Mai sogar aufsteigen kann. Die Häuser der Altstadt sind nur zwei oder drei Etagen hoch, und in Tönen von terracotta, beige und gelb angemalt. Die Stadt verstrahlt eine einheitliche Wärme. Im Osten geht die Sonne auf.
Jeder hier ist ein Teil von einer Gemeinschaft, greift ineinander, hat einen festen Platz in dieser Stadt. Ich glaube nicht, dass man sich in dieser Kleinstadt verloren fühlen kann.
"Du hier?",
schrieb mir ein alter Schulkamerad vor ein paar Tagen und versah die Nachricht mit einem ungläubigen Gesicht, weit aufgerissene Augen. Ja, ich hatte mich die letzten Jahre wirklich rar gemacht.
In der Großstadt warteten aber aktuell nur zwanzig Quadratmeter, mein Koffer und meine Steuerunterlagen, ein paar Topfpflanzen. Nach einer bislang erfolglosen Wohnungssuche und einem seitdem geteilten WG-Zimmer wohnt mein restliches Hab und Gut notgedrungen in einem Lagerraum. Für eine Isolation, bei der niemand weiß, wie lange sie dauern wird, ist es nicht meine liebste Option. Also flüchteten wir, in die Kleinstadt, wo die Quadratmeter mehr Raum ergeben, die Fenster ins Grüne starren und die Gärten groß sind, statt enge Innenhöfe voller Mülltonnen.
"Ja, ich hier. Ungewohnt, was?",
antwortete ich ihm, und wir sprachen über das anstehende Jahrgangstreffen, warfen ein paar Bälle Gesprächsfetzen hin und her. Seit vier Wochen bin ich hier in meiner Heimat, so lange, wie seit zehn Jahren nicht mehr. Es brauchte eine globale Pandemie und eine Wohnungslosigkeit, dass ich, so richtig, hierher zurück komme. Corona-Einbruch in einer Zeit, in der man auf Wohnungssuche ist, kein festes, gemeinsames Zuhause hat, ist eine denkbar ungünstige Situation. »Sucht man weiter?«, »Kann ich noch auf Besichtigungen gehen?«, »Wie soll man in einem Treppenhaus voll Menschen Abstand halten«, waren einige der Gedanken, die mir durch den Kopf gingen.
Auf einem kleinen Holztischchen neben meiner Gartenliege balanciere ich Kaffee, Himbeeren und ein Buch. Meine Hündin tollt durch den Garten, ich strecke mich aus, fahre so richtig runter. Vogelzwitschern über mir in den Wipfeln der Bäume. Was ist das, ein Specht?
Ich hätte nicht gedacht, dass es Mitte April ist, und wir noch kein neues Zuhause haben, zwei, fast drei Monate nach meinem Auszug, dass meine Sachen immer noch verpackt sind. Wir uns über den Esstisch in meinem Elternhaus in einem gemeinsamen Homeoffice ausstrecken, noch in der Luft hängen, aber doch aufgefangen, in einem Zuhause, dass sich wie aus einer anderen Zeit anfühlt. Aber es wäre auch müßig, eine vierstellige Großstadtmiete zu zahlen, wenn man aktuell das Drumherum nicht nutzen kann. Also: Miete sparen, ab in die Heimat, in das leere, große Haus, macht nur Sinn.
Ich habe seit meinem Auszug nach meinem Abitur zwar oft ein paar Tage hier verbracht, die Zeit um Weihnachten, Ostern, ein kurzer Besuch für Geburtstage. Aber nie mehr als eine Woche. Meine Mama ist längst weggezogen, die Menschen, zu denen ich aus Schulzeiten noch Kontakt habe, auch. Ich hatte keinen Bezug mehr zu der Kleinstadt, in der ich groß geworden bin, vergaß in den letzten Jahren die Abkürzungen durch die Gassen und welche Bar kürzlich geschlossen hatte. »Ach, die gibts nicht mehr?«, fragte ich des Öfteren, um es beim nächsten Besuch wieder vergessen zu haben. Heimat ist ein Gefühl, dass ich gerade erst einmal neu sortieren muss. Dass ich aus mir verdrängt hatte.
Die ortseigene Disco machte dicht, Läden wurden ersetzt, es änderte sich viel, ich hatte kein Bedürfnis mehr, mithalten zu können, informiert zu sein. Während ich im Journalistik-Studium noch für den Lokalteil der Tageszeitung schrieb, mich jedes Wochenende in den Zug setzte, um über Veranstaltungen zu berichten, klickte ich die nachfolgenden Jahre immer weniger auf die Seite, um es irgendwann ganz zu lassen. Mein Leben fand ja woanders statt, ich hatte mir nach dem Studium eine neue Heimat selbst erwählt, Freundschaften geschlossen, einen neuen Lebensmittelpunkt gebildet. Ich hatte nie diesen ausgeprägten Sinn für meine eigene Heimatstadt, diese innere Nostalgie, die ich bei anderen beobachtete. Bekannte, die nach der Schule direkt blieben oder die es irgendwann zurück in die Heimat zog, verstand ich nie so ganz, es war außerhalb meines Horizontes. Wenn die Welt mehr, größer, schneller zu bieten hatte, warum sollte man sich mit weniger, kleiner, langsamer zufrieden geben?
In Relation zur Stadt ist die eigene Flamme in den Metropolen nur ein winziges Licht, das nervös flackert, immer kurz vor dem Ausbrennen. Aus Hannover, Hamburg oder zuletzt Berlin in die Kleinstadt zu kommen, fühlt sich wie ein Crash der Welten an. Als würden die Uhren angehalten werden. Kein Verstecken in Anonymität. Bekannte Gesichter, kurzes Nicken, auch wenn man sie nicht zu Namen zuordnen kann. Wohlige Gefühle, hier war ich schonmal, hier ging viele Jahre mein Weg entlang. Saubere Straßen, ein kurzer Anruf von Oma, dass heute Abend der gelbe Sack rausgestellt werden muss.
Auch hier hat sich die eigene Relation verändert: Was sich damals wie die große Welt anfühlte ist mit zehn Jahren Abstand betrachtet überschaubar. Man hatte die eigene Heimat größer in Erinnerung, als sie tatsächlich ist. Wird irgendwann alles geschrumpft sein? Oder wächst man nur eine Weile an seinen eigenen Erfahrungen, um dann wieder an ihnen einzugehen?
Vielleicht werde ich zu einem der Protagonisten aus Dörte Hansens “Altes Land”, die nur Landleben spielen, und nur von Entschleunigung und Natur fabulieren, von ihren Vorstellungen eines romantisierten Rückzugs, nicht von der Wirklichkeit. Aber das ist okay. Ich glaube, dass hier jeder Mensch jemand anderes ist. Aufgrund genommener Möglichkeiten und begrenzter Zerstreuung eine ruhigere, besonnere Version des eigenen Selbst. Vielleicht verstehe ich so langsam doch, warum man sich für weniger, kleiner, langsamer entscheidet. Weil nicht jeder für immer rennen kann. Oder will.
Elena says
Du hast so eine unglaublich bewegende Art zu schreiben…es fasziniert einen einfach immer wieder. Das Gefühl kenne ich zu gut. Meine Oma hat immer gesagt:“ Erst wenn du in der Fremde bist, weißt du wie schön die Heimat ist.“ Damals hab ich darüber gelacht und jetzt kann ich mir nichts schöneres vorstellen als meine Kinder hier aufwachsen zu sehen. Mutti meinte letztens, das irgendwann alle wiederkommen in ihre Heimat. Vielleicht hat sie recht. Aber man muss aufjedenfall weggehen um zu verstehen was Heimat überhaupt bedeutet✈︎♡︎
Josefine says
Vielleicht ist das eine doofe Frage, aber wo bist du für die Zeit denn untergekommen? Du sagst ja, dass deine Eltern weggezogen sind :)
Marie Luise Ritter says
Ne, nur meine Mama :)
Lisa says
Wie schön, auch etwas Positives über die gemeinsame Heimatstadt lesen zu können. Sonst hört man nur vom Aussterben der Geschäfte, Wegziehen der Jugend. Mich selbst zog es in ein kleines Dorf, bedingt durch die Ausbildung. Vor 2 Jahren kauften mein Mann und ich hier ein Haus und ziehen hier mit Haus, Hof, Garten und Hund unsere baldigen 3 Kinder groß. Da meine Eltern auch nicht mehr in der Heimat wohnen, bin ich seit über 1,5 Jahren nicht mehr dort gewesen. Wofür auch. Gern, später mal, um den Kids zu zeigen, wo man aufgewachsen ist oder zur Schule gegangen. Aber den elterlichen Garten vermiss ich irgendwie schon, als Einziges.
Liebe Grüße
Sarah says
Ich kann deinen Text so gut nachvollziehen. Ich bin selber in einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt aufgewachsen und sobald ich konnte in eine Großstadt gezogen. Nie wieder wollte ich dorthin zurück. Mir erschien alles zu klein, engstirnig und einfältig. Außerdem was sollte man dort unternehmen? Bars, Restaurants, Cafés gab bzw gibt es ja nicht wirklich.
Doch wie es der Zufall will, bin ich doch wieder hier gelandet. Am Anfang habe ich lange mit der Entscheidung gehadert, manchmal tue ich es noch immer. Doch es gibt immer wieder diese kleinen Momente in denen man sich angekommen fühlt und vielleicht ist es genau das was zählt.?
Lisa Z. says
Danke für die Empfehlung von Altes Land!
Liebe Grüße,
Lisa
Ana says
Mir geht es gerade wie dir, ich bin jetzt kurzerhand auch wieder bei meinen Eltern eingezogen. Es fühlt sich wie heimkommen an, und gleichzeitig wie neu entdecken.
Inzwischen möchte ich den Garten meiner Eltern nicht mehr missen :)
Dein Text sprach mir aus der Seele! Liebe Grüße!