Winter
Ich schließe die schwere Feuerschutztür unserer Wohnung an der lauten Hauptstraße in Prenzlauer Berg und ein erstes Kapitel in Berlin hinter mir. Sie knarzt, während sie zwischen mir und der geputzten Neubau-Wohnung ins Schloss fällt. Ich betrachte sie noch eine Weile, wie sie da weiß und verschlossen vor mir trohnt. Ich höre die Gespräche dahinter, die jetzt nur noch Fetzen sind, das Klirren von Gläsern auf dem weißen Küchentresen. Erinnere mich an Partynächte, an denen irgendjemand gegen sie hämmerte, an den Tag, an dem ich mich fast ausgesperrt hätte, als ich ein Paket annehmen wollte, an den lauten Knall, mit dem der Mitbewohner sie morgens ins Schloss fallen ließ, während er schon längst die glatten, grauen Treppen heruntereilte. Dann trotte ich los, nehme die Stufen und renne fast zu meinem Bus, der hier vor der Haustür im Parkverbot steht. Dieses Kapitel — habe ich das geträumt?
Frühling
“Entschuldigen Sie, nur noch mit Maske, okay?”, ermahnt mich die Kassiererin, als ich meine Einkäufe vom Ende der Kasse wieder in meinen Wagen sortiere. Es ist der erste Tag der allgemeinen Maskenpflicht in Supermärkten, und ich habe mir noch keine besorgt. Ich habe die gestrige Verschärfung der Maßnamen gar nicht mitbekommen. Vor einer Woche waren wir von der Großstadt aufs Land geflüchtet. Offline. Hier, wo die Quadratmeter mehr Raum ergeben, die Fenster ins Grüne starren und die Gärten groß sind, statt enge Innenhöfe voller Mülltonnen.. Am Abend schaue ich auf Etsy nach schönen Masken. Lohnt sich nicht, solange wird dieser Zustand schon nicht anhalten — also schließe ich den Tab wieder.
Am nächsten Tag liege ich mit Himbeeren und einem Kaffee auf der Sonnenliege im Garten und atme die Frühlingsluft ein. Wie jeden Tag, gerade. Um mich herum ist das Grün überzogen von großen, gelben Löwenzahn-Köpfen und Gänseblümchen, die schüchtern dazwischen hervorwachsen. Hohe Kiefern und ein Ginkgo bewachen den Garten, die Sonnenflecken, die sie erlauben, spielen auf Haut, Sonnenliegen und Rasen. Gräser wachsen rund um die Feuerstelle in der Ecke, an die eine kleine Terrasse aus Holzdielen anknüpft. Vogelzwitschern über mir in den Wipfeln der Bäume. Was ist das, ein Specht?
Die Sonne scheint hier das ganze Jahr, die Gewitterfronten werde abgehalten, von den Ausläufern des Harzes, vielleicht. Pyramiden säumen das Stadtbild, auf die man an einem Tag jedes Jahr im Mai sogar aufsteigen kann. Die Häuser der Altstadt sind nur zwei oder drei Etagen hoch, und in Tönen von terracotta, beige und gelb angemalt. Die Stadt verstrahlt eine einheitliche Wärme. Im Osten geht die Sonne auf.
Ich glaube nicht, dass man sich in dieser Kleinstadt verloren fühlen kann. Kein Verstecken in Anonymität. Bekannte Gesichter, kurzes Nicken, auch wenn man sie nicht zu Namen zuordnen kann. Wohlige Gefühle, hier war ich schonmal, hier ging viele Jahre mein Weg entlang. Saubere Straßen, ein kurzer Anruf von Oma, dass heute Abend der gelbe Sack rausgestellt werden muss.
Was sich damals wie die große Welt anfühlte ist mit zehn Jahren Abstand betrachtet überschaubar. Man hatte die eigene Heimat größer in Erinnerung, als sie tatsächlich ist. Wird irgendwann alles geschrumpft sein? Oder wächst man nur eine Weile an seinen eigenen Erfahrungen, um dann wieder an ihnen einzugehen?
Vielleicht werde ich zu einem der Protagonisten aus Dörte Hansens “Altes Land”, die nur Landleben spielen, und nur von Entschleunigung und Natur fabulieren, von ihren Vorstellungen eines romantisierten Rückzugs, nicht von der Wirklichkeit. Aber das ist okay. Ich glaube, dass hier jeder Mensch jemand anderes ist. Aufgrund genommener Möglichkeiten und begrenzter Zerstreuung eine ruhigere, besonnere Version des eigenen Selbst. Vielleicht verstehe ich so langsam doch, warum man sich für weniger, kleiner, langsamer entscheidet. Weil nicht jeder für immer rennen kann. Oder will.
Sommer
Nur wenige Zentimeter neben mir schlägt der Volleyball ein. Ich blicke von meinem Buch auf, das ich zwischen meinen Füßen in den Sand eingegraben habe. Meine Arme sind schwer wie Blei von meinem ersten Wakeboard-Versuch gestern, in meinen Ohren ist noch Wasser von der ausgiebigen Runde im See heute Morgen. Mit einem Schwung greifen meine trockenen, sandigen Hände den Ball und werfen ihn zurück aufs Feld. Jemand nickt mir dankend zu, ich lächele kurz zurück, eh ich mich neu in den Seiten vertiefe. Erst als meine Freundin mir eine kalte Rhababerschorle an die Schulter hält, tauche ich wieder auf.
Wir befinden uns vierzig Minuten entfernt von Berlin. Mein Bulli parkt zwischen den dicht stehenden Bäumen, gestern Nacht habe ich drin geschlafen. Die Kissen sind zerwühlt, die Scheiben waren die ganze Nacht beschlagen. Irgendwo klebt Eiskaffee, alles ist voller Sand. Ich bin so lange Bahnen geschwommen, dass ich jeden einzelnen Muskel in meinem Körper spüre. Die Sonne glitzert auf den zwei benachbarten Seen. Nirgendwo wäre ich gerade lieber. Wenn wir am nächsten Tag in der Abenddämmerung mit heruntergelassenen Fenstern zurück in die Großstadt fahren, werden wir mit ausgestreckten Händen den Himmel greifen. Der Sommer ist ein Aufatmen. Und wir haben beschlossen, uns endlich wieder herzlich zu umarmen. Während die Tage zähflüssig vergingen, wir vom Sommer träumten und nicht bemerkten, dass sich etwas verändert, wachen wir plötzlich auf zu der Erkenntnis, dass mit einem Mal doch — alles anders ist.
Herbst
Ich hatte angedacht, vielleicht ein Jahr ist diese Überlegung her, die letzten vier oder fünf Monate dieses Jahres auf Reisen zu verbringen. Auf anderen Kontinenten. In Hostels, am Tresen, einen ganzen Ozean weit entfernt. Stattdessen stehe ich in Peniche auf einem Felsen und beobachte, wie das Wasser weit unter uns gegen das Plateau klatscht. Es sind neunzehn Grad hier. Der Strand ist voller Surfer. Nur mal kurz raus. Aber der Himmel ist hier doch der gleiche.
Ein paar Wochen später. Ich laufe über die Karl-Marx-Allee, ein paar kahle Bäume wiegen sich zwischen den kühlen Stalinbauten hin und her. Auf der Frankfurter Allee komme ich an dem Laden mit der herausragenden veganen Pizza vorbei und denke an diese schöne Sommernacht, die wir auf den Treppenstufen davor verbracht haben. Sehe uns fast noch hier sitzen, lachen, die Beine ausstrecken. Gerade musste der Laden wieder schließen.
Vielleicht habe ich dieses Jahr noch mehr als in jedem Jahr davor gelernt, dass man Momente genießen muss, solange sie da sind. Dass ich herzliche Menschen, Umarmungen, Zusammenhalt brauche. Und wessen Nähe wirklich fehlt. 2020 in einem Wort war für mich Freundschaft. Wenn ich ein Gefühl habe, dann das, zur Ruhe gekommen zu sein. Und wenn da ein Wort ist, mit dem das alte Kapitel zu Ende geht, und das neue beginnt, dann: Zuversicht.
Ronja says
Wie schön, wieder etwas von dir zu lesen, habe mich richtig über die Kolumne heute gefreut und mag sie sehr. Hab auch gestern erst wieder dein letztes Buch angefangen zu lesen, weil dieses Lebensbejahende genau das ist, was ich gerade brauche :)
Ganz liebe Grüße,
Ronja
Anna says
Sehr schön geschrieben, danke dafür. Gerade der letzte Abschnitt hat mir sehr gefallen und seltsamerweise ist “Zuversicht” auch gerade meine Denke, wenn ich an dieses Jahr beschreiben würde. Liebe Grüße, Anna