Berlin-Notizen vergangener Zeiten. Ein Sammelsurium.
Anfang 2019 (lang ist's her ...)
Februar. „Bist du Berliner?“ fragt er mich im Club.
„Ja“ rufe ich durch die dröhnenden Basse hindurch und nicke. Der Club ist voller Touris, ich wohne ja hier, also ja, ich bin Berliner. Von meinem Gefühl her sowieso und auf dem Ausweis auch.
„Achso, ich bin hergezogen, vor drei Jahren erst“, bringt er mich durcheinander.
„Achso, ich auch, zwei Monate“, kläre ich das Missverständnis auf. Wir sehen uns gegenseitig verwirrt an. Interessant, wie unterschiedlich unsere Empfindung ist. Ich sehe mich als Berlinerin, nach zwei Monaten, nein eigentlich von Tag eins an. Weil ich hier mit meiner Umgebung verschmelze und es sich nicht anfühlt, als wäre ich je woanders gewesen. Für ihn ist nur der hier Geborene ein Berliner. Er wird immer ein bisschen neu sein, ein bisschen zugezogen sein, anders sein in sich fühlen. Auch wenn er von der Definition her vielleicht richtiger liegt — fühle ich mich in meiner Art, die Dinge hier auszumalen, viel, viel wohler.
„Findest du auch, dass sich Berlin wie ein großer, langer Urlaub anfühlt?“, frage ich, kaum dass ich mich neben Maja ins Café gesetzt habe. Wir treffen uns auf einen Tee, bevor sie wieder zum Feiern loszieht. „Alle hier sind irgendwie neu, auf der Durchreise. Im Urlaub bist du ja auch ausgelassener, traust dich mehr, weil deine Zeit vor Ort kurz ist, du nutzt alles richtig, quatschst Menschen an der nächsten Bar an, beflügelt von all der Sonne, überschreitest eher ein paar Grenzen, bist eher mal spontan, so fühlt sich Berlin für mich an – nur, dass all die Extravaganz hier unser Alltag ist.“
Maja hat mehr Dates als ich, sie macht sich immer dann ein neues aus, wenn es mit einer Person zu eng wird. Sie ist jünger als ich, irgendwie genauso gestrickt, nur noch offener, und ich sauge jedes ihrer Erlebnisse wie durch einen Strohhalm direkt in mein Gehirn auf. Sie ist dieser Mensch, der einem bei Unterhaltungen in der Bar unheimlich nahekommt, sie hat diesen umwerfenden Augenaufschlag und makellose Haut zu blonden langen Haaren.
„Total“, antwortet sie. „Ich liebe es hier, aber das viele Feiern stumpft auch ab. Nichts hat hier Bestand, aber alles ist jung, random, gutaussehend. Und alle immer so: Auf jeden Fall was Echtes, auf jeden Fall nichts Festes. Und die Hektik erdrückt mich genauso sehr wie die pure Euphorie, die mich hier ständig überkommt.“ Ich nicke und bejahe jedes Wort. Wie gut es tut, neue Personen in sein Leben zu ziehen. Man ist nie zu alt, neue Freundschaften zu schließen.
“Was ist Berlin für dich? Welches Wort?” Hm, überlege ich. “Ich glaube “Unbeobachtet”, trifft es am besten. Anonym wäre ein Synonym dafür, aber das klingt so negativ und kontaklos und trifft es deswegen nicht ganz, also doch, unbeobachtet. Weil du hier machen kannst, was du magst, zum Späti in Jogger, ohne dass sich jemand fragt, warum du so aussiehst und warum du morgens um acht dringend eine Cola brauchst. Die Leute sind sich egal, aber auf eine gute Art. Gegenseitige Hilfe, ohne zu judgen. Zumindest ist das meine Empfindung hier. Du kannst deine Glitzerhose tragen oder deine Plateau Docs. Ich habe das Gefühl, dass es hier weniger Konkurrenzkampf, weniger negativen Vibes zwischen Fremden gibt, weil eh jeder sein Ding macht? Also ja, auf eine gute Art und Weise unbeobachtet. Sich egal. Und dadurch kannst du viel mehr als irgendwo sonst, sein, wer du willst. Dich frei entfalten, anonym sein, wenn dus willst, Leute ansprechen, wenn dir danach ist, alleine vorm Späti Croissant und Filterkaffee frühstücken. Sich egal sein. Ich finds okay. Vielleicht ist das aber auch nur meine Wirklichkeit in meinem Kopf. Und für dich?”
Eben ahnst du noch nichts Böses und im nächsten Moment besitzt du Fetischsachen im Schrank. Wir beschlossen uns in der neuen Lack- und Lederkluft noch am selben Abend in der Schlange des Kitkats anzustellen. Die Schlange vorm Club war immer die eigentliche Hürde – das Auswahlverfahren relativ willkürlich, und man musste halt nach Berlin aussehen und nicht wie ein Tourist. Mir behagte das nicht gerade, dass jemand anderes mich so beurteilte, dass so viele Menschen vor und hinter mir in den Clubschlangen immer wieder abgewiesen wurden. Vorm Ritter Butzke eine Gruppe blonder Mädels vor mir in der Schlange, wahrscheinlich, weil sie zu nett aussahen, in der Schlange meiner Lieblingsbar in Friedrichshain jede Menge Männer, die ohne die Begleitung von Frauen waren. Neben der Diskriminierung von Männern und dem Aussortieren von Touristen wirkte alles andere eher willkürlich. Willkür. Vielleicht ist Berlin für mich doch dieses Wort. Willkürlich.
Diese Notizen und Textauszüge sind auch zu finden in meinem Buch “Tinder Stories — Ein Jahr voller Dates“.
Sommer 2019
Juli. Auf einer WG-Party in Kreuzberg sitze ich im offenen Fensterrahmen, die Füße in die Wohnung baumelnd, und beobachte das Partyvolk zwischen Wohnzimmer und Flur. Es ist Samstag, und um in keine Post-Urlaubsdepression zu verfallen, habe ich zugesagt. Die Wohnung ist im ersten Stock über einem Swingerclub. In manchen Räumen riecht es nach Eukalyptusöl. An den Briefkästen kleben »I love Drogen«-Aufkleber. Die Wohnung ist ein unrenovierter Altbau mit hohen Decken, und als meine Freundin und ich zwölf Uhr zum Brunch eintreffen, ist der Techno bereits laut aufgedreht. Die Fensterläden sind alle weit offen. Die elektronische Musik vom kleinen Plattenteller in der Ecke wird fast übertönt von dem aufgeregten bis tiefen Geplapper der Leute, die sich allesamt kaum zu kennen scheinen. Trotzdem wirkt es wie ein Leichtes, miteinander ins Gespräch zu kommen. Mindestens hundert Leute drängen sich an diesem Samstagnachmittag in der Wohnung. Irgendetwas gibt es in Berlin immer zu feiern. Nick ist bei seiner Familie oder wo auch immer, sein Handy ist seit einigen Stunden aus. Ich finde mich zwischen Fremden wieder. Alles beim Alten.
Eine Mischung aus Aufbruchsstimmung, Berliner Samstagsmelancholie und Müdigkeit liegt in der Luft. Letzteres bin vielleicht auch nur ich. Die Gespräche tragen sich über die drückende Stille zu mir ans offene Fenster, bevor sie vorbei ins blendende Grau fliegen. An mir bleibt nichts hängen. Dazwischen schnappe ich Fetzen über Studiengänge und abgebrochene Jobs auf, die letzte Party im Kater Blau, die Mengen an Wodka-Mate und Sekt in der komplett schwarz gestrichenen Küche. Ich bin wortkarg und erdrückt von der Lautstärke und den Gesprächen, vom Himmel, der sich gleißend hell in die Altbauwohnung drängt. Immer wieder kneife ich die Augen zusammen, um die sich durch die Wohnung bewegenden Schemen scharf zu stellen. Ich bin zu müde für das hier, nicht aufnahmefähig. Die Szenerie überfordert mich, heute ist nicht mein Tag. Ich winke Maja zu, die wild gestikulierend zwischen großen Fremden lässig an einem Türrahmen lehnt, und bin schon verschwunden. Es ist erst früher Abend. Ich fahre nach Hause mit dem Plan, mich in mein Bett zu legen, vielleicht Essen zu bestellen und einen Film anzumachen. Still von AVEC läuft auf dem Heimweg auf meinen Kopfhörern. Ich fühle mich gleichermaßen leicht und schwer, als ich mich durch die Menschen auf den U-Bahn-Gleisen am Alexanderplatz und dann draußen in die Tram bewege. Es fängt in großen platschenden Tropfen an zu regnen. Ich mache die Augen zu und fühle jede Zeile des Songs.
Es ist ein Auf und Ab.
August. Die nächsten Tage tingele ich durch Kreuzberg, Charlottenburg und Schöneberg. Ich sehe mir die Menschenmengen rund um den Savignyplatz an, wie sie in der Abendsonne ihr Feierabendbier trinken, laufe durch den Viktoriapark am Bergmannkiez, in dem Hunde frei herumtollen, und besuche das Mauermuseum. Fasziniert stehe ich vor den Schwarz-Weiß-Fotografien uniformierter Grenzbeamter. Auf der Hauptstraße in Schöneberg laufe ich an David Bowies Wohnung vorbei. Der Akazienkiez nebenan erinnert mich an ein verwegenes Paris der 20er-Jahre.
Mit einem Kioskbesitzer am Südstern komme ich zufällig ins Gespräch. Ich wollte mir eine Cola für den Weg holen, ihm war das Museumsticket des DDR-Museums in meinem aufgeschla- genen Portemonnaie aufgefallen.
»Haste dir bisschen Berlin angekiekt?«, fragt er mich. »Touri, wa?«
»Ich wohne tatsächlich hier«, entgegne ich, und bin immer wieder selbst überrascht, wenn ich das ausspreche oder Berlin in ein Onlineformular eintrage. »Aber ich lerne meine eigene Stadt gerade noch mal besser kennen.«
»Da musste raus hier. In Schillerkiez und in Wedding. Da findste dit echte Berlin.«
»Werde ich machen, danke.« Ich packe mein Geld wieder zusammen.
»Berlin, dit is nicht mehr das Gleiche wie vor zehn, zwanzig Jahren.«
»Das glaube ich gern.«
»Alle sind hier so unentspannt, wa. Dat war im alten Berlin och anders. Heute is eher, kennste eenen, kennste alle.«
Ein paar Tage später trete ich grinsend auf der Warschauer Straße von einem Bein aufs andere. Ich habe blendende Laune. Zwischen den alten, einschüchternden Stalin-Bauten, die heute zu Wohnhäusern umfunktioniert sind, steige ich in die Tram. Es stinkt nach Bier. Die Pupillen des Herren rechts haben Tellergröße. Asiatinnen in Lederhosen kommen mir entgegen, als ich einen Platz suche. Das Mädchen an der Tür hat einen Strohhut auf und eine hellblaue Pinata unterm Arm. Berlin ist ein großer Spielplatz für Erwachsene aus aller Welt. Fahrräder drängeln sich in den Bereichen zwischen den Sitzplätzen. Ich werde von einer Wespe ins Bein gestochen, als ich mich setze. Meine Flip-Flops schlappen in eine Bierpfütze.
Als ich bei mir in Prenzlauer Berg aussteige, bemerke ich, dass rund um die Kreuzung alle Spätis geschlossen haben. Das Sonntagsverbot scheint durchgesetzt zu werden. In Prenzlauer Berg sind keine Clubs mehr, weil die Zugezogenen, die in die Szene wollten, mit fortschreitendem Alter und ausufernder Familienplanung gegen die Ruhestörung geklagt haben. Berlin verändert sich, jeden Tag. Die letzten Berlin-Tage waren so inspirierend, mein Körper ist in jeder Ecke mit Glück gefüllt. Ich tanze unten in meinen Hausflur rein und durch die nächsten Tage des Sommers. Nur mit mir selbst habe ich mir das Leben zu einem neuen Abenteuer gemacht. Mein Wespenstich schwillt noch am gleichen Abend zu einem untertellergroßen Fladen an.
3 Millionen von Bosse dudelt im Hintergrund. Am gleichen Abend noch sage ich in der Küche zum Mitbewohner: »Du, ich habe nachgedacht. Ich will hierbleiben. Ich bin mit Berlin noch nicht fertig. Ich bleibe.« Ich sage es eher zu mir selbst als zu ihm. Er nimmt keine Notiz von mir. Es stört mich nicht einmal.
Diese Notizen und Textauszüge sind auch zu finden in meinem Buch “Vom Nichts suchen und Alles finden“.
Ende 2020
“Das einzig Gute an Corona ist, dass man auf Tinder keine Touristen mehr sieht. Das war echt nervig”, sagt sie.
“Und dass ich endlich Gardinen angebohrt habe”, sage ich.
“Ja, das auch.”
Die Schlange vor dem KitKat geht um die nächste Straßenecke, am U-Bahn-Eingang Heinrich-Heine-Straße vorbei und noch mindestens 200 Meter die Köpenicker Straße entlang. Es ist mittags, nicht mal annähernd Einbruch der Dunkelheit, und die Masken haben sich verändert — Mundnasenschutz statt Katzenohren. Nach mittlerweile zehn geschlossenen Monaten wurde der Club inzwischen zu einem Covid-Testzentrum umgebaut. In 25 Minuten für 24,90 die Info, ob man aktuell ansteckend sein könnte.
Die Stadt ist ruhig geworden und ich bin es auch. Getrieben von der anfänglichen Verwundbarkeit, jede Party mitnehmen zu müssen und ja nichts verpassen zu wollen, hat mich die Pandemie Berlin in einem anderen Licht sehen gelehrt. Aufgewirbelter Staub, der wieder zu Boden sinkt, nach einem Auf und Ab aus Emotionen. Und ich glaube, ich habe mich hier noch nie angekommener und wohler gefühlt. Wir haben uns gefunden, zusammengeschlossen und verbündet. Miteinander und gegen diese Pandemie. Ich stehe an der Ampelkreuzung und höre nur Stille. Ich sehe die kräuselnden Bewegungen der Spree und vereinzelte Fußgänger auf meinem Weg nach Hause. Es sind maximal fünf. Die S-Bahn ist komplett leer.
Berlin fühlt sich nicht mehr wie ein endlos langer Urlaub an, stattdessen wünschten wir uns, endlich mal wieder Urlaub zu machen. Ja, doch, die Stadt ist ruhig geworden. Sie ist wie ein endloser Bon Iver-Song. Man fühlt sich wohl. Man treibt so mit. Aber die einzelnen Melodien gleichen sich sehr. Kein großes Ausbrechen aus diesem Raster, das der eigene Alltag einem vorgibt. #Stayhome ist anstrengend, wenn man jung ist und eine ganze Stadt zum Erleben vor sich ausgebreitet hat. Berlin und ich, wir machen beide Winterschlaf. Und lesen die Erlebnisse und Gedanken der Abenteuer vergangener Tage, um an ihnen nochmal aufzuleben – und zu wissen: Alles wird wieder. Weil alles kommt und alles geht.
Gina says
wenn ich das so lese, vermisse ich Berlin wirklich sehr. Ich bin Ende 2020 weggezogen, in eine Stadt wo viele meiner Freunde wohnen. In Berlin ist kaum noch jemand von meinen engen Freunden. Durch Corona und den Winter komme ich hier (in der neuen Stadt) auch noch nicht wirklich an. Ich hoffe das ändert sich im Sommer.