Der Nebel hängt tief in den Straßen, als ich um neun Uhr auf sie trete. Hier geht die Sonne auf, aber gerade wird sie vom Wetter verschluckt. Der Osten Berlins schläft noch. Der Schnee ist festgetreten, und man merkt, dass er langsam anfängt zu tauen. Spätestens ab heute Mittag wird er komplett verschwinden, während die Temperaturen zwischen den Straßenzügen immer weiter in den Plusbereich klettern werden. Bis dahin schluckt er wie eine schwere Decke noch die morgendlichen Geräusche, und während wir unsere Spuren im frischen Schnee hinterlassen, ist alles um uns komplett still. Der Hund tapst vor, ich vorsichtig hinterher. Leises Knirschen, Kieselsteine und Streusalz, die sich tiefer in die Schneeschicht reinbohren. Nichts konnte die magische Ruhe stören.
Gestern Abend schon stand ich eine Weile mitten im Kiez. Es hatte bereits aufgehört zu schneien. Ich beobachtete die Stille, die letzte wirklich kalte Nacht, und wie hell der Himmel nachts erscheint, wenn der Schnee auf Gehwegen und Straßen und Autodächern die Welt ringsum so reflektiert. Als würde es nie wirklich dunkel werden. Die Straßenlaternen surrten leise und warfen kleine Kegel aus Licht auf die breiten Gehwege. Ich war fasziniert von diesem Zauber, der Watte, die alles schluckte. Auch meine Kopf zu einem gewissen Teil. Gesprochen hatte ich den ganzen Tag noch nicht viel, war eher mit mir und meinen Gedanken beschäftigt, die ich schwer und leicht mit mir mit trug. Ich merkte, wie ich fest auf dem Boden verwurzelt stand, und überzeugte mein Inneres, sich langsam wieder in Bewegung zu setzen.
Schnee kam und ging, wie der Winter es eben für uns vorgesehen hatte. Das Verschwinden und Auftauchen von Ritualen in unseren Leben faszinierte mich, das ganze Konzept von Zeit tat es. Manchmal hatte ich das Gefühl, kaum welche zu haben, dann wieder kam mir jeder einzelne Tag so ausführlich vor, wie ein komplett eigenes Leben.
„Wie kann man dort leben und nicht gestresst sein? Ernsthaft … Menschenmassen … Hektik. Ich bekomme schon bei den Stories innere Unruhe“, lese ich eine Antwort auf meine Instagram-Story, in der wir über die Karl-Marx-Allee auf den Fernsehturm zufuhren. Zeitraffer-Videos, nach denen niemand gefragt hatte, und die ich trotzdem liebend gerne und leicht penetrant mit einem Song dahinter teilte. Ich, wie ich meine eigene Stadt romantisiere. Jeden Tag wieder. Ich liebe diese Straße, und ich liebe es, egal wo ich bin, diesen Turm blinken zu sehen. Als würde er mich und uns alle hier beschützen. Immer gleich nah und gleich weit entfernt.
„Peace is an inner state of mind, weißt du wie?“, antworte ich und lasse das Telefon dann wieder in meine tiefe Jackentasche gleiten.
Wir sehen in der Welt, was in uns stattfindet. Wir legen uns nach außen und regen uns dann darüber auf. Alles fängt in uns an: Liebe, Vertrauen und Zuversicht. So signierte ich es letzten Sommer in viele gelbe Bücher. Die Welt bunt, und ruhig und uns willkommenheißend wahrzunehmen. Vielleicht kann man dieses inneren Zustand erlernen. Ich glaube daran, aber so richtig weiß ich es nicht. Können wir alles mit unserem Kopf erlernen und anstellen? Oder bleiben wir immer in dem gefangen, was uns mitgegeben wurde? Sehen wir die Welt wie sie ist, oder immer nur wie wir sind – und können wir daran etwas ändern?
Am Kotti biege ich später am Abend um die Ecke und betrachte die U-Bahn-Überführung, die gerade für Bauarbeiten still gelegt ist. Der Hund riecht interessiert an den angrenzenden Hauswänden. Ich lasse meinen Blick über den für diese Uhrzeit sehr leeren Platz schweifen. Es riecht nach Pommes und Dreck, nach Autos und Hoffnung auf den baldigen Frühling. Alles in mir drin ist ruhig. Hektik nehme ich nicht wahr. Als wäre ich gerade in einer geführten Meditation, die mich über die Straße führt. Ich höre das Auto nicht, das die Mädchen hinter mir anhupt. Einblenden und ausblenden, statt alles wahrzunehmen. Schönheit sehen, irgendwo zwischen Betonbauten und dem grauen Himmel.
Alles was du brauchst, ist längst in dir drin. Unser Innen bestimmt, wie wir alles um uns herum wahrnehmen. Laut? Bunt? Wunderschön? Ruhig und beruhigend. Ins Leben vertrauend. Mich bringt nichts so schnell aus der Ruhe, weil ich in mir wohne, wie in einem Kokon. So stelle ich mir mein Inneres vor. So richtig nah kommt nichts einfach so an mich heran. Ich weiß, dass mir nichts Schlimmes passieren kann. Und dass ich alles andere schaffen und regeln kann. Also was sollte mich aus dieser Ruhe bringen? Ich bin geschützt. Beschützt. Wie unter einer Schneedecke.
Ich betrachte den Matsch, der sich in feinen braunen Rinnsalen die Bürgersteige entlangzieht, und wie sich der Himmel in kleinen Fetzen reflektiert. Ich mache Mavica an und setze mir meine Kopfhörer in die Ohren. Mit meiner Schuhspitze kicke ich einen Schneeberg weg, der sofort in sich zusammensinkt und muss unvermittelt lächeln. Der Winter ist wunderschön und auch sein Ende ist es. Weil er Platz für etwas Neues macht.
hanna says
Luise, ich liebe liebe liebe deine Texte! Allein wie du die Schönheit der alltäglichen Dinge beschreibst!
Danke für den kleinen Moment des Kopf-gerade-rücken’s!
Manchmal muss man sich auf die kleinen Schönheiten des Alltags konzentrieren.
Sei es glitzernder Schnee, der richtige Song zur richtigen Zeit in der Playlist oder die Blumen auf der Fensterbank!
Marie Luise Ritter says
Ganz genau, die Welt ist voll davon!