Ich zerreibe den Sand zwischen meinen Fingern, der sich schwer und regengetränkt anfühlt. Heute geht ein starker Wind, und die Oberfläche des Wassers legt sich in Kräuseln und aufbrechende Wellen. Bis auf ein älteres Paar, ein paar hundert Meter entfernt, bin ich hier allein.
Es ist einer meiner liebsten Orte rund um meine Heimatstadt. Heute war ich hergekommen, um ein paar Bahnen alleine zu schwimmen, mir den kalten Wind ums Gesicht wehen zu lassen und die vielen Gespräche dieser Woche mit so vielen unterschiedlichen Personen zu verarbeiten.
“Hättest du gerne in deiner letzten Beziehung etwas anders gemacht?”, hatte sie mich vor ein paar Tagen gefragt und geräuschvoll den Kaffee aus ihrem Glasstrohhalm eingesogen. Sie wohnt sonst in Hamburg, und wir hatten uns eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen.
“Nein überhaupt nicht. Und ich glaube, es ist falsch, sich das nachträglich zu fragen, weil ja jede Handlung im Nachhinein irgendwie begründet war. Sonst hätte man sich ja genau da nicht genau so verhalten. Ich war immer ich selbst. Oder eher nicht immer ich selbst? Auch mal lethargisch, auch mal völlig neben der Spur, streitlustig, auch mal nicht ich selbst. Nicht immer liebenswert. Und wenn ich das zeitweise war, dann hatte das seinen Grund. Menschlich. War halt einfach so.”
“Aber vielleicht seid ihr daran gescheitert.”
“Klar, und wenn das so war, dass es daran scheitert, dann sollte es genauso sein.”
Wir hatten uns unterhalten, unsere Situationen ähnlich, aber doch ganz andere. Und am Ende kamen wir auf die Frage, eine, die sie sich vor allen anderen gerade drängend stellte: Wie schafft man es, etwas loszulassen – das man eigentlich überhaupt gar nicht loslassen will? Woher weiß man, wann man loslassen sollte?
Jedes Gefühl war wie eine große, tosende Welle über mich gefegt. Hatte mir die Beine umspült oder mich versucht mit der Strömung mitzureißen. Und ich hatte sie das tun lassen. Ich war nie gut darin gewesen, Gefühle zu verdrängen. Ich lebte sie und durchlebte sie, eines nach dem anderen. Bis die Brandung sich wieder beruhigte. Etwas loszulassen, was einem viel gegeben hatte, war selbstverständlich nichts, was irgendwie leichtfertig geschah. Aber es ließ mich auch mit einer unheimlichen Stärke zurück.
Abschiede sind hart. Immer. Und das sollten sie auch sein. Sie können und müssen und dürfen schwer sein. Weil das einem zeigt, wie sehr man sich mit diesem Menschen oder dieser Zeit verbunden gefühlt hatte. Und wenn die Wellen sich wieder zurückziehen, bleibt da Dankbarkeit, dass man so etwas Schönes, Intensives überhaupt erleben durfte.
“Natürlich war ich traurig. Aber auch dankbar. Ich war traurig. Aber auch liebevoll zu mir selbst. Der schnellste Weg, mit Gefühlen umzugehen, ist durch sie hindurch. Kein Verdrängen, keine Ablenkung mit Belanglosem.” Wir sitzen am Ufer der Spree, umsäumt von Regierungsgebäuden. Meine Worte prallen an den kalten Hausfassaden um uns herum ab und finden – irgendwie – wieder ihren Weg zurück. Es ist für einen Dienstag Nachmittag im Sommer gerade so warm genug, um die nackten Beine in die Sonne zu halten und etwas länger als einen Kaffee auf den kalten Steintreppen zu sitzen.
“Meine Verantwortung ist das Leben maximal wertzuschätzen und alles in meinem Möglichen zu tun. Ich lasse nicht leichtfertig los. Hab ich noch nie. Ich versuche erstmal alles. Und wenn ich vor mir selbst sagen kann, dass ich es versucht habe, dann kann ich danach auch richtig gut loslassen. Irgendwann kommt man an diesen Punkt. Und dann ist es einfach okay”, sage ich zu ihr. Ich höre mir selbst beim Reden zu und habe das Gefühl, nicht die Worte zu finden, die sie erreichen. “Klingt es zu esoterisch”, setze ich wieder an, “wenn ich sage: Ich habe nicht zu bestimmen, wie lange etwas andauert – sondern das Leben weiß das schon von ganz alleine? Und entzieht mir Personen, weil dafür anderes in mein Leben tritt und treten wird? Jede Geschichte hat einen Anfang und ein Ende. Die Liebe dahinter kann ja trotzdem ewig existieren …”
Sie nickt.
„Weißt du, manchmal finde ich den Gedanken ganz hilfreich, dass jede Person aus einem Grund in unser Leben kommt, und wenn wir alles von ihm gelernt haben, und diese Person alles von mir – dann ist es völlig okay, wenn sich die Wege wieder trennen. Und ich glaube, dass das Leben uns immer wieder das gibt, was wir gerade brauchen. Ich frage mich immer: Was habe ich von dieser Person mitgenommen? Was habe ich am Leben entdeckt, was ich vorher nicht gesehen habe? Welche Erfahrungen habe ich nur genau so in dieser Verbindung machen können. Um wie viel reicher bin ich dadurch jetzt …”
Ich schweige und denke an das Barfußtanzen auf diesem großen Platz in Bordeaux. Meine Erinnerung tragen mich zu diesem Strahlen, zum Knattern des Oldtimers, zum Leben auf dem Land, zu diesem großen Feld hinter Backsteinwänden, zu dieser Wärme, zu allen Umarmungen. Ich fühle nur Gutes, auch noch, als ich die Augen wieder aufmache und wieder über die Steinstufen blicke, auf denen wir immer noch sitzen. Die Welle, die mich jetzt durchströmt, ist warm und zufrieden. Was für eine schöne Zeit in meinem Leben das war.
Vielleicht konnte ich es nicht genau so erklären, dass sie es nachfühlen konnte. Vielleicht sah sie die Welt anders als ich, und fragte sich nur, was die Alte da schon wieder laberte. Vielleicht hatte und musste meine Perspektive auch gar keine Relevanz für sie haben. Sie durfte das völlig anders sehen. Ich hatte nur Ahnung von meinem Vertrauen, in mich und in mein Leben. Das war so ein intensives Gefühl, dass man es nicht ignorieren konnte. Dass ich alles annahm, aber auch wieder ziehen lassen konnte.
Ihre Geschichte war nicht vergleichbar mit meiner. Bei mir waren wir einfach zwei Menschen mit unterschiedlichen Lebensvorstellungen, die dennoch, für eine Weile, die absolut schönste Zeit zusammen teilten. Sie beide dagegen hatten sich nie gut getan. Und das machte das nicht mehr Festhalten einerseits leichter, und andererseits umso schwerer. Wir hatten uns monatelang in Gesprächen darum gedreht, wie viel sie hinnahm, wie wenig sie sich selbst in dieser Verbindung gesehen fühlte – und was das mit ihr machte.
„Hättest du vor einem Jahr gedacht, an was für einem Punkt du heute stehen würdest? Also an dem, an dem du endlich bereit bist, das alles hinter dir zu lassen?“, frage ich sie deswegen.
„Nein, überhaupt nicht.“
„Und wie schön ist der Gedanke, dass du in einem Jahr wieder komplett woanders stehen wirst? Für diese Vision – tue ich alles.“
“Glaubst du wirklich, dass es so einfach ist?”, fragt sie, und lässt meine Hand eine ganze Weile nicht mehr los.
“Einfach ist nichts daran …” Ich sehe sie an. “Aber es geht immer nur weiter.” Wie zur Bestätigung nehme ich sie in den Arm und zeige auf ein Paar weit hinten. “Ich wette, das ist ein erstes Date. Voll schön …”
Ich komme, aus all diesen Erinnerungen, wieder zurück ins Jetzt. Strecke die Zehen im nassen Sand aus. Im Laufe des letzten Jahres habe ich nicht nur meine Liebe zum Schwimmen wieder entdeckt, meine Dankbarkeit für meine körperliche Gesundheit mit jedem Atemzug und jeder Armbewegung durchs kalte Wasser gefestigt, sondern auch einen richtigen happy place hier am See gefunden. Mal um mal bringe ich alte und neue Freunde mit hierher, halte sie fest, um abends mit im See gekühlten Glasflaschen anzustoßen, die Gesichter in die Sonne zu strecken und Blaubeeren und Geschichten miteinander zu teilen.
Heute ist keine Sonne und die Ufer deswegen leer. Der Nieselregen hat aufgehört. Irgendwo weit hinten über dem See bricht der Himmel auf und ich beschließe, in das wahrscheinlich eiskalte Wasser zu gehen, bevor ich den Heimweg antrete. Ich klopfe die Sandreste zwischen meinen Fingern an meinen Beinen ab. Man muss die Hände freihaben, um Neues umarmen zu können.
Mara says
Deine Worte haben mir eben so gut getan :). Sehr schöner Beitrag.
Sandra says
Wie unheimlich schön dieser Text schon wieder ist. Liebe Luise, tausend Dank dafür! Er hilft mir!
Anna says
Danke für diesen schönen Text. ♥️ Ich bin seit heute schon wieder an dem Punkt, loslassen zu müssen und hoffe, bei mir rieselt schon bald der Sand durch die Finger, damit ich die Hände wieder frei für Neues hab.
Nicole says
🤧 einfach schön
Alexa says
Liebe Luise,
vielen Dank für deinen wundervollen Text! Du schaffst es immer wieder einen zu inspirieren und zu zeigen, dass das Leben von einer besseren, friedvolleren Seite aus betrachtet werden sollte. ❤️
Sarah says
Danke für diese Worte 🥰
Anonymous says
Ich liebe einfach deine Texte🤍
Maria says
So schön, Luise.
Ich bin auch gerade im loslassen und dankbar sein und fühle das total.
Ena says
Liebe Luise
Bin gerade so dankbar für diesen Text – er passt genau zu meiner jetzigen Situation und gibt mir so viel Hoffnung! Du wählst einfach immer die richtigen Worte 🤍
Charlotte says
Danke für diese Worte 🤍
Lini says
Luise, dein Text trifft mal wieder ins Schwarze. Ich gehe gerade durch eine Trennung nach einer langen Beziehung – nicht weil etwas unschönes passiert ist, sondern weil es sich nicht mehr richtig anfühlt und ich glaube, dass etwas neues kommen wird. Es hilft mir sehr deine Worte zu lesen. Alles Liebe der Welt wünsche ich dir und allen, die gerade etwas loslassen möchten🧡
Hanna says
Berührt einen ganz tief im Inneren!
Melanie says
Dieser Text ging mir gerade richtig unter die Haut! Hilfreich ist für mich auch der kurze Schlenker zur Freundin, die sich zwar in einer anderen Situation befindet, aber genauso mit dem Loslassen konfrontiert war/ist. Mir geht es ähnlich. Loslassen ist hart, aber vielleicht hast du recht. Der Himmel wird wieder aufbrechen, die Sonne durchscheinen lassen und etwas Neues bahnt sich an und sucht sich seinen Platz.
J says
Festhalten ist so viel einfacher als loslassen…
Obwohl man manchmal ganz tief im inneren genau weiß, dass Loslassen die richtige Entscheidung ist.
Dein Text spricht mit einfach so sehr aus der Seele und gibt mir Kraft weiter den Schritt des loslassens zu akzeptieren den ich jetzt schon einige Monate gehe.
Danke für diesen tollen Text liebe Luise.
Verena says
Ich musste beim Lesen gerade so weinen, weil ich einfach nicht weiß was richtig ist. Ob ich meine Lebensvorstellung mit seiner vereinbaren kann. Ob wir das können. ich habe vorher noch nie so eine wunderbare, wundervolle und bereichernde Beziehung erlebt und bin auch noch nicht bereit sie zu verlassen, denke ich. Wir werden einen Weg finden, aber gerade bin ich einfach nur traurig und ratlos. Loslassen oder zusammen einen Weg, eine Möglichkeit suchen, die für beide gut ist?
Miri says
Fühl ich gerade so sehr <3
Misha says
Danke für diesen wundervollen Text. Loslassen fühlt sich plötzlich mit Deinem Text nach Freiheit an. Und nichtmehr nach Verlust.
Teresa says
Liebe Luise,
das ist ein wunderschön warmer und berührender Text. Danke dafür und die Ermutigung immer wieder neue Hände auch mal festzuhalten.
Bella says
Danke für dein Worte. Mir geht es ähnlich gerade mit einer Freundschaft die ausgelaufen ist, ich aber es nicht wahrhaben wollte. Danke, danke.
Ich bin offen für neues und hoffe, das bald wieder was tolles kommt.
Liebe Grüße
Lilian Hartmann says
Wunderschöner Text der mir sehr geholfen hat <3