Rückblick Sommer
„Erzähl mal, wie ist es bei dir gerade so? Wie ist dein Sommer?“ Max und ich saßen am Späti. Wir kannten uns erst seit ein paar Tagen, hatten uns über den Freundeskreis kennengelernt. Heute hatte er mir gegen 21:15 Uhr geschrieben, dass er noch in einem Onlinemeeting hing, und dringend noch frische Luft brauchte, und ob ich für ein Bier kurz rauskommen wollte. Ich war gerade auf dem Heimweg vom Sport mit meiner Freundin, auf dem Sprung in die U-Bahn und hatte kurzerhand zugesagt. Ich liebe Spontanität, und Menschen über ihr Leben auszufragen. In der Nähe des Rosenthaler Platzes genossen wir die milden Temperaturen des Spätsommers in der Dunkelheit.
„Ich würde sagen. Für mich ist es ein Sommer der Freundschaften“, fing ich an. „Also dass wir sowohl an bestehende Freundschaften viel intensiver anknüpfen, aber auch viel offener sind für neue Menschen.” Ich hatte das Gefühl, dass wir uns nach Haushaltseinschränkungen und geschlossenen Bars, nach limitieren Freizeitaktivitäten und dem permanenten Risiko einer Ansteckung ganz gut eingerichtet hatten in unseren ‘kleinen Kreisen’. Dass das herausgenommene Tempo uns erlaubte, uns noch einmal ganz anders auf unsere Freundschaften einzulassen. Vielleicht auch mit der Frage im Hinterkopf: Wenn Zeit so kostbar ist, mit wem will ich sie dann verbringen?
Max war so ein Mensch, mit dem ich meine Zeit gerne verbringen wollte. Jemand, in dessen Nähe man sich auf Anhieb wohl fühlte. Wir teilen Bier und denselben Humor. Dennoch hatte sein Gesicht etwas Ernstes, das ich noch nicht ergründen konnte. Er wohnte schon sein ganzes Leben in Berlin. Ich wusste vieles über ihn, aber gleichzeitig noch viel zu wenig. Und wie gut es tat, offen für solche Spontanbegegnungen zu sein, unabhängig von Dates, von Zuneigung oder Ähnlichem, lerne ich vielleicht erst nach einem ganzen Jahr Leben auf Distanz so richtig.
Auf dem Nachhauseweg dachte ich darüber nach, wie sehr sich die Intensität in meinen Freundschaften verändert hatte. Zufälle bringen uns im Leben zusammen – weil wir in der gleichen Straße aufwachsen, in der ersten Univorlesung nebeneinander sitzen, ein paar Tage ein Apartment auf Ibiza teilen oder spontan im Café angesprochen werden. Für mich war das immer wie Liebe auf den ersten Blick. Ich erkannte in Menschen sofort, wenn ich meine Zeit mit ihnen verbringen wollte. Diese Zufälle, die uns zueinander führten, führten uns aber genauso oft irgendwann wieder in verschiedene Richtungen. Wenn sich die Leben von Grund auf änderten, zum Beispiel. Und dann fiel es mir schwer. Festzuhalten. Vor allem, wenn es mein eigenes Leben betraf.
Ich vernachlässigte Menschen, sobald ein neuer Mann an meiner Seite auftauchte – der vielleicht in ein oder zwei Jahren gar keine Rolle mehr spielen würde. Aber das wusste ich da noch nicht. Ich tat das nie bewusst oder absichtlich. Immer erst im Nachhinein fiel mir auf, wie wenig ich in letzter Zeit für meine Freund*innen verfügbar gewesen war. Ich hatte Beziehungen immer den Vorrang vor meinen Freundschaften gegeben. Als wären enge Freundschaften nur die Zwischenbespaßung meiner Singlezeiten – Beziehungen aber die wahre Endstation. Dabei war es für mich, wenn ich jetzt zurückblicke, genau andersrum – und Freundschaften vielleicht viel mehr Beziehungen, als ich mir eingestehen wollte.
Maja und ich stehen vor dem Spiegel der Umkleide und föhnen uns nebeneinander die nassen Haare trocken. Wir hatten uns, wie mehrfach wöchentlich gerade, nach der Arbeit zum Sport getroffen. Wir tingelten durch Berlin und probierten neue High-Intensity-Kurse, Pole-Dance-Studios und Outdoor Workouts aus. Die heutige class hatte uns beiden nicht wirklich gefallen. Viel zu Cardiolastig. Meine Knie taten immer noch vom vielen Rumgespringe weh.
“Klar machen wir am Wochenende was!” Freitag oder Samstag Abend? Oder beide Tage? Wir könnten auch Sonntag zu diesem neuen Café am See fahren, da wollte ich unbedingt mal hin.” Maja klingt enthusiastisch und schaut mich durch den Spiegel an, während ich mich daran mache, meine verschwitzten Sachen zurück in meine Sporttasche zu stopfen.
“Echt?” erwidere ich und ertappe mich im selben Moment, mir das Erstaunen wieder aus meinem Gesicht zu wischen. Maja hatte seit ein paar Monaten eine neue Beziehung. Und ich war anscheinend immer noch so sehr in meinen Mustern gefangen, dass ich immer wieder den Impuls unterdrücken musste, ein dumm-dämliches ‘aber willst du nicht auch etwas mit deinem Freund machen’ aus mir herausplatzen zu lassen. Wenn sie das wollen würde, würde sie das ja wahrscheinlich auch tun.
Egal ob zu unseren gemeinsamen Singlezeiten oder jetzt in einer Beziehung, war sie immer exakt die gleiche Person geblieben. Kurz gesagt spielte der genaue Beziehungsstatus von Freundinnen wie Maja nie wirklich eine Rolle. Wir verbrachten Zeit miteinander, manchmal in großer Runde mit Anhang, manchmal nur zu zweit, tranken morgens gemeinsam Kaffee vor der Arbeit, planten Kurztrips fürs nächste Jahr. Gemeinsame Zeit hatte immer Platz, trotz aufkommender Beziehungen. Tatsächlich veränderte sich in unserer Bindung nichts – außer, dass ein weiterer Mensch beim Dinner mit am Tisch saß, neben uns im Club an der Bar stand, wenn er oder sie Lust hatte, oder eben auch nicht. Und vielleicht war das das, was mich am meisten beeindruckte.
Verfallsdatum Singlefreundinnen?
Ich glaube, es gibt viele Menschen, die mit einer sich anbahnenden Beziehung ihre Persönlichkeit wechseln wie ein paar zu groß gewordene Klamotten. Sich verschlucken lassen von dieser bunten Welt gemeinsamer erster Male, von Feuerwerk und Euphorie. Diese Zeit, in der alles andere liegen bleibt. Aber Freundschaften sind nichts, was man abstreift und wieder anzieht, je nachdem, wie es gerade zum eigenen Beziehungsstatus passt. Ich fasste mir da, am allermeisten, an meine eigene Nase. Vielleicht hatte ich erst Ende zwanzig gelernt, dass nicht nur die Beziehungen unser Leben ausmachen, sondern die Verbindungen, die uns tief prägen, unsere Netzwerke, viel größer sind.
Wir sind Zufälle, die aufeinander treffen, uns bereichern, gemeinsame Erinnerungen schaffen. Die Intensität unseres Kontakts verändert sich mit der Zeit vielleicht, ich sehe enge Bindungen, die wieder etwas loser werden. Aneinander festhalten wollen bedeutet Aufwand, sich kümmern, umeinander sorgen, da sein. Vor allem, wenn man nicht mehr den gemeinsamen Singlestatus, die gleiche Stadt oder den täglichen Weg zur Uni miteinander teilt. Und ich glaube, es ist auch okay, Menschen komplett ziehen zu lassen. Manche Menschen, die mich zutiefst prägten, sind heute kein aktiver Teil meines Alltages mehr. Dafür gibt es andere Bezugspersonen, die im Leben auftauchen, mit denen man eine neue Basis findet. Zufälle. Spontanbegegnungen. Liebe auf den ersten Blick. Und was bleiben soll, das bleibt. Ich glaube Freundschaften sind ein sich entwickelndes Konstrukt, ein Prozess im Leben, dessen Fortschritt wir uns nicht verwehren sollten. Dinge müssen nicht gleich bleiben, um gut zu sein.
Leicht abseits stehe ich an meinem Geburtstag da und beobachte die beiden Jungs, die uns ein Wohnzimmerkonzert geben, die lachenden Gesichter vor ihnen, die komplette Runde. Wir teilen die bestellte Pizza und Songtexte, die unter die Haut gehen, gemeinsam gegrölt, völlig schief. Ich bin so übermannt von meinen Gefühlen, dass ich feuchte Augen kriege, und das nicht einmal wirklich bemerke. Meine Haare sind zerzaust von den vielen Umarmungen, die ich in den letzten Stunden bekommen hatte. Das Glitzer unserer Wangen hatte sich inzwischen vermischt. Ich hatte jahrelang nicht mehr meinen Geburtstag wirklich groß gefeiert. Immer nur mit dem Partner, vielleicht zwei, drei Freundinnen, mit denen ich gerade viel Zeit verbrachte. Aber: Ich liebe es, das Leben überschwänglich zu befeiern. Und mir auch den Raum dafür einzunehmen. Und wie ich diese lachenden Gesichter betrachte, es mögen dreißig oder vierzig sein, bemerke ich: Ich habe so viele starke, kluge Personen um mich herum, mit denen ich gerne durchs Leben gerne. Ich bin so richtig in dieser Stadt angekommen. Und in meinen Freundschaften.
Hand in Hand laufe ich am nächsten Vormittag, meinen Festivalzopf noch in den Haaren, mit meiner Nichte über die Brücke am Berliner Dom. Wir sind langsam unterwegs. Ihre kleine Hand schließt sich fest in meine. In einigem Abstand trottet die ganze Familie hinter uns her. Alle waren gestern Abend auf meiner Party gewesen. Meine Schwester zählte schon seit jeher zu meinen engsten Freundinnen. Und auch wenn sich ihr Leben mit dem neuen Bewohner von grundauf änderte, unsere Verbindung zueinander tat das nie. Wir sind nur um eine kleine Person im Leben reicher. Und wir facetimen noch immer jeden einzelnen Vormittag zehn Minuten miteinander. Aktuell vor allem, weil jemand sehr Kleines “den Wauwau” sehen will. Bindungen bedeuten Veränderung. Schöne Veränderungen.
Kathleen says
Einfach nur wundervoll ✨ ich liebe deine kurzen kleinen Geschichten❤️
Maren says
Einfach nur unfassbar schön geschrieben 🥺 bin grad sprachlos, du sprichst mir komplett aus der Seele. Danke für den wunderschönen Text – ich lese deine Worte so unglaublich gerne ❤️
Katja says
Ach Luise, damit sprichst du mir so aus der Seele! Ich habe kürzlich erst mit Freund*innen darüber gesprochen, wie Freundschaften sich verändern, wenn eine Person in einer neuen Beziehung verschluckt wird (super Wort dafür!).
Damit umzugehen ist immer schwer, weil ich mich eigentlich über die verliebte Anfangsphase aller meiner Freund*innen freuen und sie von Herzen gönnen möchte. Trotzdem bleibt man als Single manchmal ziemlich allein zurück.
Als Langzeitsingle mit zahlreichen verschluckten Freundschaften über die Jahre, habe ich mich manchmal in aufkommenden Beziehungen/Bekanntschaften aber selbst sabotiert, in solcher Panik meine Freundschaften nun auch zu vernachlässigen – und zu einer ebendieser Freundin zu werden, von der ich selbst immer wieder enttäuscht wurde.
Ein Thema das mich sehr berührt und beschäftigt – Freundschaften. Gerne mehr dazu :)
Großartiger Text <3
Lena says
Ich habe Tränen in den Augen. Ein wunderschöner Text! Es bereitet so viel Freude deine Texte und Geschichten zu lesen! :-)
Mira says
Du findest immer so unglaublich schön Worte. Der Text beinhaltet soviel unglaublich Wahres, was wir uns viel zu selten ins Gedächtnis rufen :)