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Der Laptop steht aufgeklappt auf meinem Glasschreibtisch, der schon ein paar Kratzer hat. Es ist vor ein paar Wochen, so ein kalter Frühlingstag, an dem sich die Sonne irgendwo zwischen Nebelwand und gegenüberliegender Hausfassade verlor. Wir arbeiten uns gemeinsam durch meine Versicherungen, eine nach der anderen wird auf Sinn und Inhalt geprüft. Haftpflicht, Hundehaftpflicht, Hausrat.
“Hausrat? Brauchst du sie? Was hast du so? Und was davon brauchst du?” Meine Finanzberaterin guckt mich durch die Zoom-Kamera an, als würde sie versuchen, einen Blick auf meinen Hintergrund zu erhaschen. Sie sieht höchstens zwei Pflanzen und vielleicht den kleinen Mops, der sich auf der Lehne des Sofas positioniert hat, so, als würde er unbedingt auch im Bild sichtbar sein wollen.
Ich tue es ihr gleich und sehe mich in meinem Wohnzimmer um. “Ähm … eigentlich brauche ich nur meinen Hund, mein Handy und meinen Laptop”, antworte ich dann ehrlich. Und meine Erinnerungen, füge ich in meinem Kopf noch hinzu. Klar, am Hund hänge ich emotional, und die letzten beiden sind meine Arbeitsgeräte, die ich überall mit hinschleppe, um meine Bücher und Texte zu schreiben und meine Reisen festzuhalten. Meine Erinnerungen sind alle abgespeichert, in mir. Mein Augen wandern über die übergroße graue Couch, die mich schon seit Hamburg begleitete, meine Büchersammlung, die Pflanzen, die kleine schwarze Kommode, in der sich Mitbringsel und Fotos befinden. Nach und nach klopfe ich ab, was in mir hier joy sparkt, wie Marie Kondo sagt. Nichts davon löst etwas in mir aus.
“Okay, anders gefragt, also mal ganz direkt: Wäre es schlimm, wenn alles abbrennt?”
“Oh Gott, das wäre so geil”, platzt es aus mir raus. “Ich meine …” Oh. Hatte ich das gerade wirklich gesagt? Das war meine instinktive Reaktion, wenn ich mir vorstellte, dass aller Besitz, alle materiellen Erinnerungen, alle Fotos und Bücher und Klamotten und Ansammlungen, die sich in meiner Wohnung befanden … einfach so weg wären? Ich sammele mich, aber rudere nicht von dieser Aussage zurück, schwäche sie nicht ab. Es war eben so. Ich hing nicht an Materiellem. Ich hing an meiner Neugier, an meinem Drang, die Welt zu entdecken, an Ideen, an meiner Kreativität, an Menschen, an meiner Abenteuerlust, an den Erinnerungen in meinem Kopf. Nicht an einem T-Shirt im Schrank oder einem alten Fotoalbum aus meiner Kindheit.
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Meine langen Haare wehen im Wind durch die Fenster des kleinen Flitzers, den wir uns hier gemietet hatten. Ich drehe die Musik auf, Ehrling. Vor uns lagen ein paar Tage Zweisamkeit. Wir halten in Straßencafés, schlendern über Wochenmärkte und essen Melone auf einer Klippe am Meer. Der Himmel ist blauer, als ich ihn in Erinnerung habe. Ich fahre durch enge Gassen und Weinberge, Serpentinen zu einer Bucht hinunter, abends stoßen wir zu spanischer Musik und Tapas unter einem warmem Nachthimmel auf diese wunderschönen Tage an. Ich sehe später mein Gesicht im Spiegel und mir fällt auf, wie glücklich ich hier aussehe. Wie aufgeblüht ich mich fühle.
Dieser Trip war die Idee meiner Freundin gewesen, nicht meine, sie wollte nach Griechenland, aber irgendetwas verleitete mich dazu, Spanien für uns zu buchen. Ein paar Nächte raus waren für uns beide gerade das richtige. Ich war erst vor ein paar Wochen mit dem Bulli auf dem spanischen Festland gewesen. Immer mit der Frage im Hinterkopf: Wo war das Leben, was sich für mich richtig anfühlte? Barcelona im März hatte mir schon dieses Gefühl gegeben, aber dann war der Moment nicht der richtige, ich musste in Berlin bleiben, meinen Master fertig machen. Ich übte mich in Gelassenheit. Der richtige Zeitpunkt würde noch kommen. Vielleicht ging es immer nur darum: Dem Leben zu vertrauen und alles auf sich zukommen zu lassen, nicht zu überstürzen, was nicht sein sollte, nicht festzuhalten, was sich nicht mehr richtig anfühlte. Die Aufregung und Vorfreude kribbelte dennoch schon in mir.
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Mit den Zehenspitzen drücke ich mich vom Rand des Pools ab und springe nach vorne, die Oberarme an meine Ohren gelegt. Der ganze Körper unter Spannung. Fast geräuschlos tauche ich unter, gleite am Boden des Pools entlang. Ich schließe die Augen. Vielleicht mochte ich das am meisten daran. Die totale Kontrolle über meinen Körper zu haben. Immer irgendwo zwischen Macht und Schwerelosigkeit. Jeden Zug ganz genau zu platzieren. Durch das eisig kalte Wasser, einen nach dem anderen, die Kälte spüren, das Adrenalin durch den Körper pulsieren, die Augen wieder weit aufgerissen, und erst im letzten Moment wieder auftauchen, kurz davor, immer. Ich schnappe so heftig nach Luft, dass meine Lunge wie Feuer brennt.
Im Alltag, umgeben von Luft und Geräuschen und fremden Gedanken, fällt es mir manchmal schwer, bei mir zu bleiben. Wassermassen, die sich wie eine schwere Gewichtsdecke um mich legen, zwingen mich, für einen Moment nur bei mir zu sein. Nicht im Außen, sondern nur in meinem Inneren. Zwingen mich, mich wirklich fühlen zu wollen. In meinem Körper zu sein. Schon immer tauche ich am liebsten unter.
Unter Wasser wusste ich ganz genau, was mein nächster Schritt sein würde, und auch noch, als ich auftauche, ist alles in mir ganz klar. Manchmal musste ich mich über Wasser nur noch selbst davon überzeugen. Manchmal brauchte es Mut, auf diese Intuition wirklich zu hören. Ihr nicht zu trotzen. Vor allem wenn sie nicht der gesellschaftlichen Norm entsprach, dem, was eine Frau, in meinem Alter, zu tun oder zu lassen hatte. Ich bin der Überzeugung: Eigentlich wussten wir immer, was wir wollen, was das richtige für uns war. Manchmal verloren wir nur die Verbindung zu uns, die Fähigkeit, uns wirklich in den eigenen Körper reinzufühlen, und damit auch die Verbindung zu Urvertrauen und der eigenen Intuition. Aber alles befand sich schon in uns. Ich ziehe meine Bahnen, spanne meinen Bauch und die kleinen Muskeln in meinen Schultern an, atme tief ein, und tauche wieder unter. Vielleicht kam, am Ende, alles auf diese Frage zurück: Was lässt mich lebendig fühlen?
4
Nach zwei durchgetanzten ersten Nächten auf der Insel wollte ich heute zeitig zurück in die kleine Finca nach Cala Major kommen, vielleicht noch kurz die Beine am Rand des Pools ausstrecken, ein paar Seiten lesen oder einfach früh schlafen gehen. Wir hatten Trüffelpasta am Hafen und eine Unterhaltung über Themen, die uns beschwerten, übers Loslassen und Vergänglichkeit.
Auf dem Weg zurück zum Mietwagen biege ich spontan nach links ab, weil ich den kleinen Hauch eines rosa Himmels über die Dächer luken sehe. Vielleicht gab es hier eine Möglichkeit, ihn zu sehen. Vor mir erstreckt sich die Außenterrasse eines Museums. Meine Füße hatten mich wie von selbst hergetragen. Ich schwinge meine Beine über die Mauer, direkt über den Abhang zum Hafen, unter dem riesige Palmen die Geräusche der Autos abfangen.
Ein paar Spanier kommen zu uns herüber und fragen mich, ob ich ein Foto aufnehmen könnte. Ich springe auf, streiche mein Kleid glatt und laufe barfuß zu ihnen. Sie stellen sich als Miguel, Paolo und Paco vor. Sie wohnen hier und arbeiten in einem Restaurant in der Nähe. Außer heute, sonntags, da war es geschlossen. Er will mir Tipps für Palma geben, ich reiche ihm mein Handy und zeige die offene Google Maps-Liste.
“Da ist auch so ein Hundestrand in der Nähe”, fügt er zu seinem Tipp zu einer Bar hinzu, ohne zu wissen, dass ich einen Hund habe, der zu Hause auf mich wartete. Ein paar Minuten später läuft eine Frau mit einem Mops über die Plattform des Museums. Es ist der erste Hund, den ich wahrnehme, seit ich in Palma bin.
Erst vorhin hatte ich gesagt, wie lange es her war, dass ich einen wirklich schönen Sonnenuntergang gesehen hatte. So einen, bei dem man minutenlang irgendwo sitzt und staunt. Jetzt erstreckt er sich in schönstem rot und orange und rosa direkt über uns. Ich klopfe meine Hände ab, die ich auf der Mauer aufgestützt hatte, um mich wieder hinzusetzen, und mir fällt im gleichen Moment das ‘P’ auf, das an die Innenseite meines Ringfingers tätowiert ist.
Manchmal wartet man auf ein Zeichen, und dann sieht man plötzlich so viele auf einmal. Es war Zeit. Für den Moment. Alle Zelte abzubrechen. Penny einzusammeln und losziehen.
daniela says
So so schön diese Kolumne!:)
Alexandra says
Ich war gleich mittendrin ❤️
Katha says
Wohl die schönste Kolumne von dir die mich jemals so berührt hat, habe jedes einzelne Wort gefühlt ❤️
Julia says
❤️
Sophia says
Wunderschön ♥️
Erst freue ich mich immer irrsinnig wenn ich sonntags sehe, dass du wieder geschrieben hast, lese die Kolumne und stelle mir jede Situation vor und dann scrollt man den Text Zeile für Zeile runter und hofft, dass es das noch nicht war.. dass es noch einen 3ten, 4ten und 5ten Absatz gibt.
Ich habe bis jetzt jeden Text von dir im Stillen gelesen, wollte dir aber mal die Anerkennung zeigen, die ich in mir drin eh immer fühle und hoffe auf noch viele gedankenreiche und leichte, oder auch schwere Texte von dir ♥️
Marie Luise Ritter says
Danke fürs Teilen, das berührt mich sehr :)
Sina says
🧡🧡🧡
Greta says
Liebe, Liebe, Liebe.
Christina says
So so schön geschrieben! Danke fürs Teilen <3
Lena says
Diese Kolumnen geben mir so viel. So viel Lebensfreude, die einfach direkt auf mich überschwappt! Ich selbst liege gerade in Thailand am Strand, vielleicht auch ein bisschen durch dich inspiriert aus meiner Komfortzone herauszutreten. Ich fühle deine Worte, wie so oft, tief in mir. Danke Luise! 🧡
Marie Luise Ritter says
Dankeschön, das ist toll!!
Ordinary Girl says
Ich konnte mich so sehr in deine Worte hinein versetzen 🧡
Danke, diese Kolumne zu lesen hat sich so gut und berührend angefühlt 🧡✨
valérie says
folge dir schon seit so so vielen jahren und du bist der einzige blog, den ich lese :) und irgendwie begleiten deine texte auch immer meine umzüge und neu-anfänge und entscheidungen. Bin selbst die letzten jahre viel unterwegs gewesen und meine zelte jetzt in lausanne aufgeschlagen, am wasser was sich anfühlt wie das meer :) danke luise, wie schön dass du meine jahre mit-begleitest! freue mich auf all deine abenteuer, die noch kommen!