Amelie und ich sitzen in einem dieser Lokale in unserem Kiez, die in den letzten Monaten stark die Preise erhöht haben. Statt acht zahlt man jetzt zwölf Euro oder mehr für seine Bowl oder das Avocadobrot.
„Uff“, mache ich, als ich einen Blick auf die Karte werfe.
Wie immer werden wir abgelenkt davon, dass jemand mit meinem Hund ins Gespräch kommt, sich neben uns runter bückt und in entzückte Laute verfällt. Nachdem die beiden ein paar Minuten nur mit Penny reden, stellen sie sich dann doch uns vor, als Studenten aus Amsterdam, die ein kreatives Projekt über Berlin machen, jedem, den sie treffen, genau eine Frage stellen.
„Darf ich euch aufnehmen, also nur den Ton?“, fragt der eine, und ich nicke. Er holt sein Handy raus und hält es meiner Freundin entgegen, räuspert sich.
„Was ist das emotionalste, was ihr mit Berlin verbindet?“
„Uff, jetzt wird’s deep“, quatsche ich in die Aufnahme dazwischen, und dann weiß ich nicht mehr, was ich sagen soll.
Da ist diese wirklich große Liebe, die hier in den Straßenzügen unseres Kiezes hängt, ihre Spuren auf dem Weg zwischen Park und Club in den Asphalt getreten hat. Freundschaften, die überall verteilt die Überbleibsel unserer Erlebnisse hinterlassen haben. Es ist dieser Kuss an der Straßenbahnhaltestelle, als die Bahn schon einfuhr, der fast ein bisschen zu lange dauerte, es ist dieses eine Café zu dem wir immer gemeinsam gehen, obwohl der Service gar nicht so gut und der Kaffee echt miserabel ist, die Stelle wo wir anhalten, um uns zum Abschied zu umarmen, diese Bar, in der wir uns das erste mal getroffen haben und dann diese Bank am Wasser, auf der wir fast zwei Jahre später „dieses Gespräch“ hatten. Es ist verlorenes Herumwandern, einsames Warten und gelbe U-Bahnen, staubige Hitze und eiskalter Wind, graue Häuser, und dann diese Wohnung, in der es mir die Luft abgeschnürt hat, eine ganze Woche lang, und immer wieder: Menschen, Menschen, Menschen. Ich kann es nicht auf eine Emotion aufdröseln. Wenn zwei okay sind, dann Liebe und Einsamkeit. Wären meine Erinnerungen hier eine Karte, an jeder Straßenecke würde eine Stecknadel stecken.
So viel, was ich mit dieser Stadt verbinde. Eigentlich tue ich das mit jedem Ort, an dem ich je für längere Zeit gewesen bin. Ich mag es, mich mit den Städten, in denen ich wohne, so verbunden zu fühlen. Ich war irgendwie fasziniert davon. Ich sauge sie auf und lasse sie mich einnehmen, und manchmal rede ich über nichts anderes mehr. Sie machen mich kreativ und geben mir die Inspiration, die ich brauche. Oder lassen mich sprachlos zurück. Hier sind die Erinnerungen daran am frischesten.
„Ich glaube das emotionalste für mich an meiner Stadt und ich wohne schon mein ganzes Leben hier,…“, fängt Amelie an, „ist, dass es mich manchmal verschluckt und dann wieder ausspuckt, dass man hier die höchsten Highs und tiefsten Lows hat.“
„Wie so ‚ne Droge, die alles intensiviert, die größte Euphorie, aber genauso die schlimmste Einsamkeit“, werfe ich meine 2-3 unsinnigen Gedanken in ihr Gespräch dazwischen. Ich dachte nach, während sie redete. Ich liebte den riesigen, bunten Trubel hier. Euphorie und Einsamkeit. Vielleicht lag es daran, dass die Stadt so riesengroß war. Ich hatte mich noch nie irgendwo so anonym und austauschbar gefühlt. Es war ein Ort, der dich auch nicht sah, wenn du nicht gesehen werden wolltest. Vielleicht konnte man sich hier nicht besser finden als überall sonst, aber dafür konnte man leicht zwischen Menschen und Hausfassaden komplett verloren gehen.
Ich hatte noch nie in meinem Leben so eine Einsamkeit gefühlt, so glaubte ich, wie die letzten 1,5 Jahre in Berlin. Sie hing in vielen Fetzen an den abblätternden Tapeten in meiner Wohnung, in der ich während meiner Quarantäne eingesperrt war, sie war eingetrampelt auf dem immer gleichen Hundespaziergang einmal um den Block, lag irgendwo zwischen Gang drei und vier im Supermarkt, wo ich mich angesteckt haben musste, im Fensterbrett, auf dem ich wie gelähmt saß und auf meine Straße runterblickte, in der Hemmung, auszuarbeiten, was in mir vorging. Einsamkeit war ein Gefühl, das sich immer nur unvollständig mit Worten beschreiben ließ, was mit uns abends im Bett lag, nach einem unheimlich schönen Tag, was da sein konnte, trotz der Menschen, die uns umgaben, was manchmal da war, wegen der Menschen, die uns umgaben. Sie verstrickte sich mit altbewährten Routinen, mit dem Fehlen von frischem Wind, sie kam und ging wie ein ungebetener Gast, blieb immer nur auf Zeit, nie ganz für immer.
Der Himmel hängt grau und schwer über uns, ein böiger Wind fegt heute durch den Kiez. Meine Freundin erzählt weiter und ich nicke und werfe Satzfetzen ein, und eigentlich sind unsere Empfindungen hier genau ähnlich, aber doch ganz anders. Meine Wege hier waren mir zu ausgetrampelt. Ich wollte wieder in Bewegung kommen, abstreifen, was auf mir lastete. Mir fehlte das Gefühl, überwältigt zu sein.
Irgendwie faszinierend, wie jeder von uns etwas anderes sah in einem Ort, wie jeder von uns Stecknadeln setzte und die Stadt wie eine Leinwand bunt für sich anstrich. Ich hatte meine vielleicht nur zu lange im Regen stehen lassen. Sie war grau und durchweicht. Später an diesem Nachmittag nahm ich diesen Gedanken mit mir nach Hause. Warum in grau feststecken, wenn auf der anderen Seite so viel bunt warten konnte. Beim Gehen lächelte ich sie an. Ich wusste, was ich tun würde.
Mein neues Buch „Vom Glück, allein zu sein“, erscheint 2023. Da gehts auch um Liebeskummer,
Einsamkeit, Trennung, Trauer (und auch um all die schönen Dinge des Alleineseins!)
Sobald man es vorbestellen kann, verlinke ich es hier.
Anna says
So schön geschrieben & viele Gefühle die ich in mir wiedererkennen kann :)
Freue mich schon auf nächsten Sonntag! Und das Buch!
Liebe Grüße :)
vanessii says
Euphorie und Einsamkeit beschreiben Berlin gut!
Leo says
Ich liebe deine Kolumnen. Sie holen mich beim ersten Wort ab und komme mit auf diese kleine Reise, wo man sich so viel selbst erkennt. Ich glaube, das ist das, was ich so liebe: Du sagst und schreibst das, wofür ich nicht die passende Worte finde. Oder wo ich sie finde, aber nicht loswerden kann.
Netti says
So schön! Danke für diesen Text! <3
Juli says
Soooo schön!
Judith says
Ich liebe liebe liebe deine Texte und deinen Schreibstil! Danke für den tollen Einblick in deine Gedanken- und Gefühlswelt! 💛
Moses_Montana says
Fantastisch!
Jacky says
Ich freue mich so sehr auf dein neues Buch, liebe Luise! Kann’s kaum erwarten :)