September fühlt sich für mich jedes Jahr wieder nach Neuanfang an. Vielleicht wegen der Blätter, die Jahr für Jahr immer früher von den Bäumen schweben und nun schon im August unter meinen knirschenden Schritten landen. Vielleicht, weil das Ende des Sommers jedes Jahr wie ein Weckruf scheint, sich noch einmal neu auszurichten, in diesem Jahr, das nun auf der zweiten Hälfte liegt, und auch generell. Im September wird mir immer die Zerbrechlichkeit der Zeit bewusst, vor allem meiner eigenen, eine ganz grundsätzliche Vergänglichkeit, die in der Luft liegt.
An diesem Morgen öffne ich wie an jedem Morgen in Paris eine der drei Balkontüren, die auf eine Straße mit typischen Hausmann-Fassaden rausgehen, die noch im Schatten liegt. Die Straße liegt fünf Stockwerke unter mir, ich höre sie aber auch so. Nicht einmal zum Sonntag ist es hier ruhig, eigentlich ist es das nie. In der Stadt liegt immer ein gewisser Lärmpegel, egal, wo ich bin. Ich würde gern behaupten, dass ich mich an ihn gewöhnt habe, aber dem ist nicht so. Barfuß trete ich raus auf den leicht erhöhten schmalen Balkon, zehn Meter lang und nicht einmal vierzig Zentimeter breit, es ist einer dieser Dinge in Paris, die von außen zwar schön aussehen, aber für den tatsächlichen Gebrauch unheimlich unpraktisch sind. Aus Ermangelung an Platz für Möbel setze ich mich also mit meiner heißen Kaffeetasse auf den Boden des Balkons, strecke die Füße durch die verschwungenen Eisenstreben des Geländers und lehne meinen Kopf an die Fassade an.
Ich lasse den Blick schweifen. Vor mir liegt diese wunderschöne Stadt mit den hohen Hausmann Fassaden, über die sich seit Wochen endlich ein blauer Himmel erstreckt. Den, auf den ich seit Monaten gewartet habe. Paris war vielleicht nie schöner als jetzt, denke ich. Mal sehen, was kommt.
Ein Sommer in Paris, mein Sommer in Paris, liegt auf der Zielgeraden. In zwei Wochen werde ich wieder meine drei Koffer packen, die eigens zusammen gesammelten Tassen und Bücher wieder aus den Schränken nehmen und das möblierte Apartment verlassen. Zurückfahren an einen anderen Ort, der für mich Heimat und Zuhause ist. Ein Kapitel beenden, ein anderes aufschlagen.
In einer englisch-französischen Buchhandlung direkt am Jardin du Luxembourg kaufte ich diese Woche ein zweisprachiges Buch namens Paris über Paris, von Julian Green. Er schreibt darin, gleich zu Beginn: „Im Schoße eines Models zu liegen, um es zu zeichnen, kam mir noch nie wie die richtige Position vor.“ Er müsse Paris verlassen, um über es schreiben zu können. Geht mir auch so, und vielleicht nicht nur, um über es schreiben zu können, sondern um ganz grundsätzlich, zu wissen, was ich daran schätze, vermisse. Das wusste ich auch von allen anderen Orten immer erst, wenn ich sie verlassen habe, als würde man dann das ganze Bild sehen, und nicht nur die Details. Um es einzuordnen. Oder es endlich romantisch verklären können.
An diesem Abend prasselt der Regen auf mich, als ich das Haus noch einmal verlasse, um mir die Beine zu vertreten. Meist seitwärts, statt nur von oben. Da bist du ja wieder, denke ich. So kenne ich dich.
Auszug aus meinem Tagebuch
Mary says
Manchmal erkennen wir die Reflektion unseres erlebten Spiegelbildes erst dann, wenn wir aus dem Spiegel heraustreten.
In dem Fall – die Stadt verlassen um sie in all ihrer Schönheit schätzen.
Ich liebe deine Texte & Geschichten ♥️🫶🏻
jules says
habe bis vor kurzem auch in paris gewohnt, kann deine gedanken zu 100% nachvollziehen. trotz, vielleicht aber auch wegen des lärms, der vielen menschen, des gestanks und des elends fange ich an, die stadt zu vermissen, ihre bunte eleganz und selbstsicherheit, wie jedes arrondissement ein eigener kosmos ist. september in paris ist immer besonders, weil rentrée. für alle ein kleiner neuanfang nach den langen ferien, obwohl immer noch sommer gefeiert wird, nur ohne erwartungen. genieß die zeit!