Auszug aus »Vom Nichts suchen und Alles finden«, Kapitel 1
Ich brauche am nächsten Morgen drei Anläufe, meine Augen aufzuschlagen und das schrille Geräusch in meiner Wohnung mit der Realität zu verbinden. Beim vierten Mal habe ich es. Es klingelt. Widerwillig schlurfe ich zur Tür und werfe einen Blick durch den Spion, der von schweren Jacken des Mitbewohners versperrt wird, mit denen er eine Expedition in die Arktis überstehen würde. (Wir haben Mai. In Berlin sind es durchgehend über fünfundzwanzig Grad.) Nick steht mit zwei bunten Mehrwegbechern dort draußen vor meiner Wohnungstür. Ich mache auf, erst nur einen kleinen Spalt, und schließlich in Zeitlupe ganz. Er drückt mir einen Kaffee in die Hand, einen Kuss wüst auf den Mund und begrüßt meine Hündin zu seinen Füßen.
„Bereit? Wir machen einen Ausflug!“ Nick grinst. Er steht in Chinos und einem hellen T-Shirt vor mir, die lederne Schultasche umgehangen. Er riecht frisch geduscht, aber auch nach einer Sommernacht und wilden Küssen auf dem Balkon. Für acht Uhr morgens macht er einen ziemlich verwegenen Eindruck. Verwirrt lege ich den Kopf schief. Seine Worte dringen noch nicht wirklich zu mir durch, was ich mit einem Schluck aus dem Kaffeebecher versuche zu ändern.
„Lässt du mich rein?“, fragt er.
„Natürlich.“ Ich trete aus der geöffneten Tür und mache den Weg in die Wohnung frei.
„Du bist ja früh wach“, bringe ich dann hervor, und: „Wohin denn?“ Mit einem Fuß kratze ich die Socke von der Hacke des anderen ab. Nick hatte mich gestern Nachmittag hier abgesetzt und war weiter zu sich gefahren. Den Abend hatten wir getrennt mit Freunden verbracht, ich in Prenzlauer Berg, nahe meiner Wohnung, sodass ich alleine in mein Bett gefallen war, er in seines in Friedrichshain. Irgendwann gegen ein Uhr hatten wir noch kurz telefoniert.
„Wieso bist du so zeitig auf? Ich habe noch geschlafen.“ Ein bisschen muss ich grinsen über seine frühe Euphorie. Erinnert mich an mich selbst, im letzten Sommer. Ich war noch nie ein Morgenmuffel. Er ist auch keiner. Jeden neuen Tag beginnt er voller Vorfreude.
„Ich will dir was zeigen. Eine knappe Stunde Fahrt. Vielleicht auch weniger, die Straßen sind leer. Wie lange brauchst du zum Duschen?“ Er zieht mich aufgeregt in meine Wohnung. Seine krausen Locken stehen wild in alle Richtungen ab.
„Zehn Minuten, okay?“ Ich schlurfe mit der einen verlorenen Socke im Schlepptau in mein Bad und brause mich ab. Eine kalte Dusche später bin ich schon wacher und schlüpfe in die Sachen, die hier eh von gestern rumliegen, meine Shorts, ein schwarzes Bustier und ein weißes T-Shirt. Es ist morgens schon unerträglich stickig zwischen den Betonbauten der Großstadt, die die Hitze durch die offenen Balkontüren reindrücken.
Wir fahren von meinem Zuhause los, die Prenzlauer Allee runter und am Fernsehturm vorbei, am Spittelmarkt links und in Kreuzberg wieder rechts, und unter Tempelhof auf die Autobahn. Während wir an Schönefeld vorbeikommen, trinke ich meinen kalten Kaffee leer. Als wir auf verzweigte Landstraßen abbiegen, die Natur sich verlangsamt, entspanne ich mich endlich. Hier ist es wirklich schön. Die Straßen werden schmaler, grüne Landstraßen wechseln sich mit Waldabschnitten ab, und ich hoffe auf einen See und Freibadpommes. Crow von Bear’s Den läuft über die Lautsprecher. But there you are. Die Temperaturanzeige im Auto zeigt sechsundzwanzig Grad. Meiner Orientierung nach sind wir schon längst in Brandenburg. Wieder ein paar Dörfer weiter parkt Nick rechts am Straßenrand und zeigt nach links.
„Das da. Das will ich dir zeigen.“ Ich sehe mich um. Ein verwittertes, schmiedeeisernes Tor überragt mein Auto und lässt keinen Blick auf das zu, was sich dahinter verbirgt. Ich trete ein paar Schritte zurück. Kaum zu erkennen, ragen weit hinter dem Tor zwei Ziegeldächer über Backsteinfassaden in die Höhe. Nick öffnet das Tor und verschwindet im Nichts dahinter. Als ich folge, lässt er gerade den Hund im hohen Gras von der Leine frei. Sträucher kratzen an meinen nackten Beinen, ich schirme meine Augen gegen die Sonne ab und betrachte die beiden fensterlosen Scheunen. Ein alter Traktor steht da, eingefangen von Spinnenweben, auf dem Boden festgetretener Matsch und alte Späne. Die Türen und Fenster hängen schief in ihren Angeln. Aus den oberen Luken dringt Heu. Mit meiner freien Hand ergreife ich seine.
„Sieht verlassen aus. Irgendwie verkommen. Nick, was machen wir hier? Wem gehört das hier?“, frage ich in die Ruhe um uns herum. Bis auf das Zwitschern der Vögel und ein weit entferntes, knatterndes Motorengeräusch hört man einfach … nichts. Ohne zu antworten, umrundet er die vordere Scheune. Ich folge. Hinter ihr liegen Apfelbäume und ein brüchiges Gatter vor einer weitläufigen, schönen Wiese. Die große Eiche wirft kühlenden Schatten auf den hinteren Teil des Grundstücks.
„Uns.“ Sein Blick ruht amüsiert auf meinem, wie er beobachtet, wie ich die Wörter verarbeite und zwischen ihnen und den Scheunen hin- und hersehe. „Naja mir bisher, aber falls du dir das vorstellen kannst …?“ Er lässt seine Frage vage im Raum schweben.
„Dir?“ wiederhole ich nach einer gefühlten Ewigkeit verblüfft. Der Hund ist im hohen Gras kaum noch zu erkennen. Das Wort hallt immer wieder in mir nach. Er hat eine Scheune in Brandenburg? Zwei sogar? Uns?
„Was soll ich mir vorstellen können?“, frage ich langsam.
„Ein Zuhause auf dem Land.“
Noch immer perplex schweige ich. Wir leben in der Großstadt, mitten im Trubel. Natur findet sich höchstens in kleinen Flecken in den über die Stadt verteilten Parkanlagen. Einen größeren Kontrast zu unserem selbstgewählten Alltag könnte es nicht geben.
„Komm, hier lang.“ An meiner Hand zieht er mich ins Innere der ersten Scheune.
Wir klettern, er voran, über eine wacklige Leiter auf den Heuboden der Scheune hoch, laufen hintereinander über die Balken und sagen eine Weile beide gar nichts. Bis auf mein fragendes „Meinst du, dass das uns hält?“ und sein wissendes Nicken. Von den Decken hängen Spinnweben.
„Und, kannst du dir das hier vorstellen?“
„Ich sehe vor allem viel Arbeit“, antworte ich ihm zögernd.
„Aber könnte schön werden, oder? Eine offene Wohnung in einer alten Scheune. Ein Rückzugsort von der Großstadt.“ Er klingt träumerisch.
Mit dem Blick ins morsche Gebälk und auf alte Wagenräder gerichtet bleiben wir dort im Heu liegen. Eine ganze Weile sagen wir beide nichts. Dieser Morgen hat eine Wendung genommen, die ich so nicht vorhergesehen habe.
„Also, was denkst du?“, fragt er noch einmal.
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