Triggerwarnung: Belästigung
Ich hatte erst gar nicht gemerkt, dass ein junger Mann mir auf meinem Nachhauseweg folgte. Wir hatten in der U-Bahn kurz Blickkontakt gehabt, ich hatte aber die meiste Zeit auf die Playlist auf meinem Handy gestarrt. Es war mein Rückweg von der Uni, Samstag Abend, ich war geschlaucht und unkonzentriert. In letzter Sekunde war ich an meiner Station rausgehechtet, und er wohl hinterher. Wahrscheinlich wohnte er auch einfach in diesem Viertel. Ich klickte die Lautstärketasten an meinem Handy lauter und stapfte weiter durch die dunkle Nacht. Das Laub unter meinen Schuhen knirschte, ich ging schnell und mit meinen Gedanken völlig in diesem Song auf, bis ich etwas meine Schulter streifen spürte. Ich sah, dass der Mann aus der U-Bahn zu mir aufgeholt hatte und nun neben mir lief. Zu dicht. Ich wich von ihm ab und machte einen Schritt Richtung Bordsteinkante, während ich weiterging.
“Hi, du bist mir aufgefallen, kann ich dich kennenlernen?“, sprach er mich auf englisch an.
“Nein, tut mir leid”, antwortete ich, ohne meine Musik auszuschalten oder mein Tempo zu drosseln.
“Ich lerne immer gerne neue Menschen kennen, wohnst du hier im Viertel?“, ließ er sich von meinem ‘Nein’ nicht weiter stören. Ich sagte nichts und ging weiter. “Ist das dein Heimweg, sollen wir noch ein Stück zusammengehen?“
“Nein, möchte ich nicht”, erwiderte ich bestimmt. Kurz bereute ich, nicht noch eine Weile an der Hauptstraße geblieben zu sein, statt die Abkürzung durch den Park zu nehmen. “Ich würde gerne alleine nach Hause gehen, alright?” Ich korrigierte mich. “Ich gehe alleine nach Hause.” Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass man als Frau die Antworten in so einer Situation klar formulieren muss, klare Sätze, kein Konjunktiv, kein Siezen, kein eigentlich-würde-ich-gerne und kein wenn-es-dir-nichts-ausmacht.
Ich gehe wirklich schnell, aber er kann mein Tempo halten. Auf dem Weg begegnen wir niemandem, das Viertel scheint wie ausgestorben. In seinen Redepausen höre ich nur die knackenden Äste und Blätter unter unseren hastigen Schritten.
“Kann ich deine Nummer haben?”
“Nein, wie ich schon sagte. Du sollst mich in Ruhe lassen.”
“Wollen wir noch ein Stück spazieren gehen? Ich kann auch mit hoch kommen.”
Es ist die Haustür meines Altbauhauses, vor der wir zum Stillstand kommen. Ich hatte es nicht geschafft, ihn loszuwerden, mein Nein hatte er mehrfach ignoriert. Unruhig steht er neben mir, während ich in der Tasche nach meinem Schlüssel krame. Er ist deutlich älter als ich, seine Hände stecken in den Taschen seiner schwarzen Jacke. Ich versuche seine viel zu nahe Anwesenheit auszublenden.
lass. mich. in. ruhe.
Als ich meinen Schlüssel endlich gefunden habe, schließe ich hastig und ohne ihn nochmal anzusehen auf, schlüpfe in den Hauseingang und drücke die Tür von innen zurück ins Schloss. Ich leere den Briefkasten, schüttele den Tag von meinen Schultern, die in meinem langen Mantel stecken, und lasse meinen Nacken knacken. Mit einem Stapel Post in der Hand erklimme ich die ersten Treppenstufen hoch zu meiner Wohnung, und denke nur noch an den Hund, der mich gleich schwanzwedelnd und glücklich hinter der Tür erwartet. Im Wohnungsflur sinke ich auf den Boden und drücke das kleine Fellknäuel an mich.
“Samstag Abend wurde ich von jemandem aus der U-Bahn bis nach Hause verfolgt”, erzähle ich meiner Freundin beiläufig, als sie ein paar Tage später abends auf meiner Couch sitzt. Es war mir gerade erst wieder eingefallen.
“Was????”
“Ja, super unangenehm”, schließe ich ab und wechsele das Thema.
“Gehts dir gut? Willst du darüber reden?”
“Nein, alles gut.”
“Wow, das hat dir nichts ausgemacht? Ich hätte eine Panikattacke bekommen. Wie kann ich das nicht mitnehmen?”
“Hm”, denke ich nach. “Mitgenommen. Vielleicht … weil ich weder klein noch zierlich bin? Also, er war genauso groß wie ich, wie die meisten Männer … Vielleicht lag es daran, dass ich nie fühle, dass jemand mir kräftemäßig überlegen ist? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich war viel zu kaputt von der Uni, um mich da noch irgendwie drum zu kümmern. Ich dachte mir nur, nerv mich nicht, hast du keine Hobbys?” Sie ist nicht überzeugt von meiner Gleichgültigkeit. Bevor wir das Thema wechseln, entwickelt sie Heimwegstrategien für mich und ich kriege kaum mit, wie ich ihr verspreche, zukünftig die Hauptstraße statt der Parkwege zu wählen. Ich nicke unkonzentriert.
Ich habe das Gefühl, es gibt keine Situation, mit der ich nicht umgehen könnte. Ich kann mich immer wehren, konnte mich bislang immer wehren. Ich bin groß und mache Sport, was mir beides auch ein Gefühl von Sicherheit verleiht. Ich fühle mich nie irgendwo unsicher, auch nachts nicht. Früher in Hamburg ging ich die fünf Kilometer vom Kiez nach Rotherbaum nachts regelmäßig alleine, weil ich es beruhigend fand, in der warmen Sommerluft morgens um vier spazieren zu gehen. Wenn mir Freund*innen beim Abschied hinterherrufen, dass ich ein Taxi oder Uber nehmen soll, damit ich sicher und schnell zu Hause bin, nicke ich und gehe dann zu Fuß oder in die Bahn. Ist dieses Gefühl der Sicherheit, das Gefühl über alles die Kontrolle zu haben — trügerisch? War ich einfach zu naiv?
abgestumpft
Ein paar Tage später dachte ich noch einmal an die Situation, an meine Gleichgültigkeit. Und dann fiel es mir auf: Ich war schlichtweg abgestumpft. Die Menge an Belästigungen, am Hinterhergerufen-Bekommen, an unschönen Bemerkungen hatte sich so angehäuft, dass ich nicht mehr aufmerksam war — weil sie zur Normalität geworden waren. Sie machten mir keine Angst, weil ich den Ablauf solcher Begegnungen einfach schon zu oft erlebt hatte. Wenn man Dinge wieder und wieder erlebt, werden sie zu einer merkwürdigen Art Routine. Es war mir so egal, weil es nichts Besonderes mehr war.
Wenn wir nervös sind, Angst haben oder das Gefühl, eine bestimmte Situation nicht mehr unter Kontrolle zu haben, schüttet unser Körper Adrenalin aus. Das Stresshormon schärft die Sinne und setzt ungeahnte Energiereserven frei, bereitet uns auf Flucht oder Kampf vor.
Ich dagegen — blieb schläfrig und abwesend. Mir schoss kein Adrenalin ins Blut, als ich hörte, dass ein mir fremder Mann mir auf den Fersen war, mein Alarmzentrum im Gehirn ging nicht an, um unterwegs bei einem Freund zu klingeln, der auf dem Weg wohnt, den ich nach Hause ging. Ich hatte keinerlei Verteidigungs- oder Fluchtinstinkte, kam nicht auf die Idee, in ein Taxi zu springen, meinen Schlüssel zwischen die Finger zu stecken, lautstark zu telefonieren oder es einfach vorzugeben, nicht mal darauf, einen Umweg zu gehen, um ihn abzuschütteln. Mein Kopf blieb dumpf. Dieser fremde Mann, der mich gegen meinen Willen und trotz meiner deutlichen Aufforderung verfolgte war mir — irgendwie egal.
Und ich glaube, das war für mich das tatsächlich Verstörende an dieser ganzen Begegnung: Die Erkenntnis, dass es für mich nach unzähligen Situationen dieser Art so normal geworden war, das eigene Nein übergangen zu sehen, dass sich mein Unterbewusstsein gar nicht weiter darum kümmerte.
Es war mir einfach nur egal. Die Großstadt hatte mich abgestumpft.
Sara says
Liebe Luise,
dein „abgestumpft“-Text begleitet mich schon seit Tagen und ich denke immer wieder darüber nach, was es bedeutet, dass wir mit mehr oder weniger Angst durch den öffentlichen Raum huschen und uns von Freunden und Familienmitgliedern ermahnen lassen, lieber nicht durch den Park zu gehen.
Manchmal halten wir Jahre daran fest, Dinge auf eine bestimmte Art zu tun oder zu empfinden, nur weil wir es immer schon so getan oder empfunden haben. Wir haben schlicht keinen Zweifel daran und keinen Anlass es zu überdenken.
Ich habe z.B. von meiner Mutter gelernt, nachts auf belebten Wegen zu bleiben, dort zu gehen, wo viele Leute sind. Ich bin mir sicher, dass meine Mutter mir und nicht meinem Bruder diese Ratschläge gegeben hat (ich weiß es aber nicht genau).
Ich bin Berlinerin und bin mit der Angst vor Übergriffen aufgewachsen – und wenn ich mal ehrlich bin: Mit der Angst vor Männern. Mitgegeben wurde mir das Grundgefühl, dass das Verhalten einiger Männer für mich gefährlich werden kann und dass ich mich davor zu hüten habe. Mitgegeben wurde mir das Gefühl, dass dieser Umstand irgendwie wie eine Naturgewalt zu bewerten ist.
Wenn es regnet, nehme ich einen Schirm mit, sonst werde ich nass – selbst Schuld.
Wenn es dunkelt, dann gehe ich nicht durch den Park, sonst werde ich belästigt…. selbst Schuld?
Damit übertrage ich den Tätern etwa so viel Verantwortung für ihr Handeln, wie dem Regentropfen. Das hatte ich mir noch nie so klar gemacht.
Ich habe letztens mit angehört, wie eine Verwandte meine Tochter davor warnte, alleine Spazieren zu gehen und spontan wurde ich sehr wütend, konnte aber nicht in Worte fassen, warum.
Ich denke es war die Wut darüber, dass sie meiner Tochter, die Verantwortung für die Taten ihrer Mitmenschen gab. Sie wies sie darauf hin, dass sie grundsätzlich ein Opfer ist und wenn sie nicht aufpasst zur Mittäterin wird. Sie sagte: Schränke Dich ein! Sie erschuf eine diffuse Angst, die meine Tochter nur schwer wird ablegen können. (Ich kann nicht einmal sagen, ob ich das nicht selbst schon getan habe, aber manchmal muss man es von außen sehen, um es zu verstehen.)
Dann dachte ich: Was ist die Nachricht, die sie ganz nebenbei meinem Sohn damit sendet? Wird er unterschwellig mit dem Gefühl aufwachsen, dass „boys will be boys“ und dass eine Frau alleine im Park irgendwie Freiwild und „selbst Schuld“ ist? Alleine im Park, alleine auf der Straße, möglicher Weise hübsch angezogen?
Wo fängt das an, wo hört das auf und welche Verantwortung muss ich jetzt hier in meiner Erziehung übernehmen? Meine eigene Angst kann ich auch mit Vernunft nicht ablegen, sie ist da. Aber die Weichen stellen für die nächste Generation kann ich vielleicht schon – versuchen kann ich es jedenfalls.
Eine Freundin hat mir letzten auch mit viel Wut erklärt, sie lasse sich von dieser Angst nie vorschreiben, welchen Weg sie zu gehen habe. Ja, inzwischen empfinde sie diese Angst nicht mehr. Es sei ihre Pflicht, diese Angst aktiv abzulehnen. Diese gesellschaftliche Schuld wolle sie nicht auf sich laden. Schuld habe sie nicht in dem Moment, in dem Sie nachts den Park durchquere, sondern in dem sie sich der Angst hingibt und vor allem, in dem Moment, in dem sie diese Angst an die nächste Generation weitergibt und dafür sorgt, dass Verantwortung ungleich verteilt bleibt. Wir sitzen alle im gleichen Boot und das sollten wir unsere Kinder nie vergessen lassen. Wir tragen für uns und für einander die Verantwortung – immer und in gleichen Teilen.
Das sagt sich alles leichter als es ist…. So wirklich zu Ende gedacht, habe ich das noch nicht.
Ich danke Dir sehr für diesen Anstoß.
Herzliche Grüße,
Sara (BKS15)
Marie Luise Ritter says
Liebe Sara,
danke für deinen ausführlichen und sehr zum Nachdenken anregenden Kommentar! Ich kann gar nicht abschließend entscheiden, welcher Weg für mich ‘richtiger’ und welcher ‘falscher’ ist, ob einer falsch ist. Ich finde es auch wichtig, sich nicht von Angst und möglichen Geschehnissen einschränken zu lassen – aber natürlich auch, verantwortungsvoll zu handeln. Am Ende wird es immer ein Spagat bleiben …?
Die Weichen stellen für deine dir nachfolgende Generation kannst du sicher! Aber jede Einzelperson ist trotzdem die Summe der eigenen Erfahrungen. Mir wurde auch viel in der Art mitgegeben wie von deiner Verwandten an deine Tochter, und dennoch habe ich mir kein Stück dieser “diffusen Angst” selbst angenommen. Oder – vielleicht gerade deswegen nicht. Aus Trotz?
Bin allerdings nicht in Berlin sondern in der Kleinstadt aufgewachsen … :-)
Liebe Grüße,
Luise