Ich taste die Zimmerdecke meines Schlafzimmers Zentimeter für Zentimeter mit meinen Augen ab. Zu mehr bin ich körperlich nicht in der Lage. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt ein menschliches Gesicht gesehen habe. Niemand darf zu mir, ich darf nicht raus. Zwangsweise an ein Bett gefesselt, das sich anfühlt, als würde es immer größer werden. Die Leere erdrückt mich. Und während sich jeder Tag schlimmer und noch mehr nach einem körperlichen Aufgeben anfühlt, als der davor, kriecht eine Einsamkeit, die ich nicht kenne, wie heisere Panikattacken in mir hoch. Noch mindestens zehn Tage Quarantäne.
Ich sehne mich nach sozialer Interaktion, einem freundlichen Lächeln, einer Umarmung vielleicht. Sonst nie, aber jetzt gerade umso mehr. Alles was ich vorfinde ist eine warme Suppe auf meiner Türschwelle und sieben Anrufe in Abwesenheit. Ich mache die Augen wieder zu.
In meinen Fieberträumen fantasiere ich vom Reisen, von neuen Abenteuern. Zeitweise fühlt es sich an, als würde die Zukunft an mir vorbeiziehen, nach der ich immer wieder versuche zu greifen. Bewegte Bilder, die sich in großen Denkblasen befinden. Ohne sie festhalten zu können. 39,5 Grad.
Nur sieben Wochen später werde ich an einem Strand stehen und aufs Meer blicken. Einen Kaffee in der Hand. Daran glaube ich da noch nicht. Leben – ist so weit weg.
„Muss das sein, so weit weg … und dann auch noch alleine?“, fragt meine Mama wieder und wieder, und auch nochmal, als ich am Tag vor meiner Reise bei ihr in der Einfahrt aus dem Auto steige, um ihr meine Hündin zu übergeben. Die war direkt in den großen Garten gesprintet und hatte sich den anderen Hunden angeschlossen, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.
Ich hatte eine Pause eingelegt, und gestern einen Flug gebucht, direkt für den übernächsten Tag. Hatte meinen Rucksack gepackt: Ein paar Kleider und meine Yogasachen. Das winzig kleine Microfaser-Handtuch, Mückenspray, ein leeres Tagebuch, meinen nagelneuen Reisepass und alle Dokumente in Kopie.
“Muss es nicht. Aber es ist das beste, was ich für mich gerade machen kann.”
“Und wann gehts zurück?”, erkundigt sich der junge Mitarbeiter am Schalter und schlägt meinen Reisepass auf. Seine dunklen Haare sind zu einem Dutt gebunden.
“Weiß ich noch nicht. Ich habe nur den Hinflug. Einen Monat vielleicht?” Ich beobachte, wie er seine Augenbraue hochzieht und mich belustigt, aber erstaunt mustert.
“Und wo ist dein Aufgabegepäck?” Ich drehe mich und präsentiere ihm meinen Rucksack.
“Man braucht weniger, als man denkt”, antworte ich noch, und nehme meinen Boardingpass an mich, während er lacht.
In meinem grünen Kordhemd, das ich mir an der Taille geknotet habe, stehe ich einen Morgen später in Frankfurt am Gate und blicke auf das bauchige, riesige Flugzeug vor der Fensterscheibe. In elf Stunden wird es mich in Cancun wieder ausspucken, mit nur einer gebuchten Übernachtung und vier Wochen Zeit.
„Bist du alleine? Können wir dann tauschen?“ Ich sehe hoch zu der jungen Frau, die sich neben mir im Gang aufgebaut hat. Ich hatte mich gerade auf 20C gesetzt und mein Gepäck verstaut. „Du, also meine Freundin und ich wir würden gerne zusammen sitzen, aber ich sitze neben dir, und sie sitzt da hinten.“ Wage deutet sie irgendwo ans Ende des Flugzeugs. „Kann sie herkommen und du gehst da hinter? Ist auch ein Gangplatz. 32 F.“
„Klar“, murmele ich, ohne weiter darüber nachzudenken, stehe auf und steuere den hinteren Teil der Maschine an. Der Mann in Reihe 32 ist eingeschlafen, als ich mich neben ihn fallen lasse und mit einem Großteil seines Körpers auf meinen Sitzplatz genickt. Das war nicht der klügste Tausch, überlege ich. Vielleicht hätte ich auf meinen Platz bestehen sollen. Aber ich bin ja alleine. Da muss man zurückstecken. Oder?
Elektonische Musik und völlige Dunkelheit erwarten mich rund um dieses Hostel auf Isla Mujeres, als ich 19 Uhr ankomme. Die warme, schwüle Luft hatte mich schon am Flughafen umgehauen, und ich konnte es kaum erwarten, mich aus meinen langen Sachen zu schälen. In den Palmen den Abhang runter am Strand glitzern schwach ein paar Lichterketten. Still und dunkel liegt das Meer direkt dahinter. Zwölf Euro die Nacht zahle ich hier für die gemischten Dorms, inklusive Frühstück. Sie sind sauber und aufs Maximale klimatisiert.
Ich grüße zwei junge Frauen im Eingang des Dorms, die sich auf einer Sprache unterhalten, die ich nicht kenne, japanisch vielleicht, und werfe meine Reisetasche auf das obere Hostelbett in der hinteren Hälfte des Raumes. Eine kalte Dusche später zwänge ich mich seit Monaten das erste Mal wieder in die Levis Jeansshorts vom letzten Sommer. Sie sind inzwischen viel zu groß geworden. Barfuß tapse ich durch die Dunkelheit, die Steintreppen runter und dann über die sandigen Wege zum Strand und trete an die Bar. Es sind immer noch 32 Grad.
Die Luft kribbelt. Ich beobachte die fremden Gesichter, die mir entgegen kommen. Nur einen Moment später werde ich in ein Gespräch verwickelt. Die nächsten Tage trage ich mich durch bekannte Lächeln und fremde Energie, fühle mich wohl und geborgen, gerade weil ich hier ganz allein bin. Muss nichts. Kann einfach nur sein. Wir bewegen uns anders, wenn wir einander fremd sind. Die Einsamkeit, die ich gefühlt hatte, konnte ich nicht mehr rekonstruieren. Sie war gegangen, wie sie gekommen war, mir unbekannt, nur ein Gast auf Zeit. Die Fremdheit zum eigenen Sein weicht wieder dem gewohntem Vertrauen. Jeder Atemzug geht wieder tiefer. Ich fühle wieder besser in mich hinein und mich der Welt um mich herum endlich wieder nah. Allein, aber niemals allein. Als unsere Gläser aneinander stoßen, lache ich laut auf. Flugmodus an.
Jette says
liebe liebe liebe es!!!💘
Dani says
Ohhhh 💜💜💜💜 Ja, bitte mehr davon. Würde so gerne mit dir mitreisen … zumindest in Gedanken 😍
Julia Wolterink says
Bitte mehr davon! Hat Spaß gemacht den Text zu lesen. :-)
Melanie says
Liebe Luise, ich habe im letzten Jahr dein Buch gelesen, wunderschön 😊 du schreibst so toll, dass man das Gefühl bekommt, selbst dabei zu sein und alles miterlebt. Deine Kolumne ist sehr inspirierend und ich bewundere Dich für deinen Mut. Find ich richtig toll 👍
Nadine says
Bitte mehr davon. Ich liebe deine Art zu schreiben, so locker leicht aber zum Denken anregend.
Nicola says
Toll geschrieben, Luise. Du verstehst es einfach, Zwischentöne in Worte zu fassen. Gibt es vielleicht eine Fortsetzung?
Maxi Chrobok says
Liebe Luise,
ein wunderbarer Text der unter die Haut geht. “Allein” kann so viel bedeuten, kann so viel sein und sich auf so viele Arten bemerkbar machen. Es kann für einen den schlimmsten Kummer, die größte Angst oder auch eine neue Chance sein. Und oft liegen diese Facetten auch nah bei einander.
Deine Worte sind unglaublich echt und inspirierend! Vielen Dank dafür!
Pass auf dich auf.
Maxi
Lo says
Liebs
Feli says
Wunderschön. Fernweh, Glück & Träumen zugleich, was Dein Text da mal wieder in mir hervorruft. Liebs & freu mich auf weitere Einblicke Deiner Reise 🥰
Wienke says
Wow, ich bin immer wieder beeindruckt von deinen wunderschönen Texten! Du schaffst es immer wieder mich zu verzaubern. Und dieser Text hier trifft meine Sehnsucht nach Reisen auf den Punkt. Vielen vielen herzlichen Dank für diesen wunderschönen Start in die Woche <3
Marina says
Toll! Bitte mehr!
Jana says
Es ist so schön diese Zeilen zu lesen, tut so gut endlich wieder von dir zu lesen. Wie schön wären diese Worte auf Papier oder als Audio. Noch mehr Sinne, die an deinen Texten beteiligt sein könnten. Liebs!
Diana says
Einfach nur toll! Ich will immer weiter lesen und bin vollkommen gefesselt :)
Jessi says
Das erste mal, dass ich sagen kann dass mich etwas so fesselt. Dein Schreibstil. Einfach so großartig. Dass du es schaffst, so viele Wochen mit unterschiedlichsten Phasen und Emotionen so gut zu kombinieren, dass man gefühlt drin steckt und mitlebt. Unfassbar. Danke für diese tolle Gedankenreise.
Lelelemon says
Wow, einfach wunderschön