“Ich würde ihn wirklich, wirklich gerne noch sehen. Ich will jetzt nicht ins Bett gehen und den Abend einfach so für beendet erklären.”
„Dann slide doch in seine DM’s“, schlägt meine eine Freundin der anderen vor. “Also, wenn du ihn sehen willst, meine ich.”
Wir sitzen in ihrem Wohnzimmer bei einem Glas Rotwein und dem Kaminknistern auf dem Fernseher, trotz Hochsommer. Es ist 22:30 Uhr. Gerade lauschten wir gebannt ihrer Erzählung von zwei Spaziergeh-Dates mit einem südafrikanischen Rugby-Spieler, aus denen noch nicht mehr wurde. Aus denen auch nicht mehr werden muss, wie ich befand – ich bin gerade ein sehr großer Fan davon, Menschen kennenzulernen, und die schönsten, intensivsten Freundschaften aufzubauen. Aber mit seinem Profilhinweis ‘etwas Unverbindliches’, was man bei bumble einstellen konnte, und ihrem Interesse an ebensolchem, war die Sache für meine Freundin wohl klar.
„Sliden wohin? Hör auf zu sprechen als wäre das hier Tiktok oder Clubhouse. Was soll das überhaupt heißen?“, fragt sie zurück.
„Du sollst ihm schreiben”, lache ich. “In seinen Nachrichteneingang hüpfen wie ein abgeworfener Fallschirmspringer.“
„Um die Uhrzeit?“
„Ja.“
„Und was?“
„Naja …“ Wir anderen drei gucken sie an, sie taxiert uns zurück, ein bisschen verständnislos.
„Wat?“
„Das was man in diesem Moment schreibt. Zumindest wenn man Absichten hat wie du jetzt gerade scheinbar.“ Ich lasse eine Kunstpause verstreichen und ziehe eine Augenbraue hoch. „‚Noch wach?‘“
“Noch wach?”, fragt sie ärgwöhnisch. “Was ist das denn für eine bescheuerte Frage.”
“Knapp und präzise.”
“Und das ist zielführend? Okay”, sie rollt die Augen und tippt theatralisch auf ihr Telefon. Das kleine Rauschen ertönt, als die Nachricht abgeschickt wird. Nach nicht einmal zwanzig Sekunden pingt eine Antwort. “Uh”, … “er schreibt ja.” Ein paar Sekunden vergehen, ehe sie ergänzt “… und, ob ich noch vorbeikommen will?”
“Damit habe ich heute echt nicht mehr gerechnet.” Sie zieht ihren Hoodie an, der ein paar Flecken vom indischen Essen abbekommen hat. Es stört niemanden weiter.
Wir verabschieden sie kichernd, während sie draußen ins Uber steigt. Eine halbe Stunde später mache auch ich mich auf den Weg nach Hause, während ich durch die Nachrichten scrolle, die im Laufe des Abends eingetrudelt waren.
Mir fiel es schon immer schwer, mein Handy abends auf Flugmodus zu stellen und erst morgens um acht wieder zum Leben zu erwecken. Ich wollte immer erreichbar sein. Auch nachts. Irgendwie war ich immer noch wach oder schon – je nachdem. In Lauerstellung. Immer bereit. Mit einem möglichen nahendem, nächsten Lockdown im Nacken konnte jeder Abend unter Menschen der letzte sein. Und ich genoss sie, einen nach dem anderen.
Es war eine Hektik, die ich durchgehend irgendwo in meiner Brustgegend ziehen spürte. Eine Art positiver Stress, der mich antrieb, wie ein leichtes Herzrasen. “Ich glaube ich bin gerade einfach high on life” hatte ich es vor ein paar Tagen genannt. Ich hatte mich kurz nach dem Aufstehen bei einem Freund gemeldet, der daraufhin, etwas besorgt, meinen Schlafrhythmus infrage stellte. Getippt gegen 6:02 Uhr in das kleine Nachrichtenfenster, während ich mich, trunken vor Seligkeit gegen meine Küchentheke lehnte und den Kaffee betrachtete, der durch die Siebträgermaschine lief. Wir waren erst 01:22 Uhr aus der Bar getanzt und in ein Uber nach Hause gestiegen.
Es war schon immer so gewesen, dass ich mit der Sonne aufstand, und im Sommer eine Energie entwickelte, die mich kaum noch zur Ruhe kommen ließ. Ich pilgerte fünf Uhr morgens zur Alster, weil ich mich so auf den neuen Tag freute. Nach so vielen Monaten der Ruhe steigerte der aktuelle Sommer meine Energie noch einmal ins Unermessliche.
Ein paar Tage später berichtet sie mir von ihrem nächtlichen Treffen. “Es war witzig und albern irgendwie, da nachts aufzuschlagen. Ich habe im Flur sein Rennrad umgeschmissen, es ist gegen ein Tablett mit Gin-Flaschen gefallen. Zwei sind zerschellt, und seine zwei Mitbewohner davon natürlich aufgewacht. Der eine war super sauer. Wir haben bis vier Uhr morgens durchgelacht, viel geredet, Gin vom Boden gewischt und sind dann einfach nebeneinander eingeschlafen.” Sie lacht auf. “Nein im Ernst, ich hatte echt einen tollen Abend. Auf genau solche Nächte habe ich, glaube ich, den ganzen vergangenen Winter gewartet.”
Wir waren die Generation, die nicht abschalten konnte – und nach der Pandemie war unsere “FOMO” schlimmer als je zuvor. Getrieben von dem Gefühl, nicht genug Zeit zu haben. Wir wollten überall sein. Wir waren ausgeruht und hungrig nach Leben aus der Phase des Lockdowns getaumelt. Konnten nicht genug bekommen. Wollten abends nicht schlafen gehen. Wir kosteten aneinander wie an vollen Gläsern die ein bisschen überschwappen. Und irgendjemand war immer noch wach.
Aber vielleicht verpassten wir, während wir von Aperol zu Geburtstagsfeier zu Job-Termin zu Späti-Hangout hetzten, unsere Arbeit dazwischen schoben, nicht nur wertvolle Stunden Schlaf, sondern vor allem das, worauf wir wirklich in diesem Sommer mal unser Augenmerk legen sollten: Durchzuatmen. Denn nicht die Quantität der Abende machte diesen Sommer aus – sondern eher ihre Intensität. Und die kleinen Abenteuer des Alltags waren vielleicht noch schöner, wenn sie nicht in eine Abfolge aus Terminen gequetscht waren und damit zu einer einzigen langen, stressigen To-Do-Liste wurden. Sondern besondere Dates, intensive Gespräche, und alles, wofür wir uns Zeit nahmen – weil wir Zeit dafür hatten.
Abends wasche ich mein Gesicht, stelle mein Handy aus und lege es in den Flur. Die kalte Regenluft zieht durch die offene Balkontür und durch die ganze Wohnung. Ich tapse barfuß über die knarrenden Holzdielen bis zu meinem Bett, stelle das Wasserglas auf dem Boden ab und wickele mich in die kalten Leinenbezüge. Es gab nichts zu verpassen, wenn wir um die Ruhe in uns wussten. Wir konnten nicht den Anschluss verlieren, wenn wir ihn immer bei uns hatten.
Viviane says
Auf den Punkt gebracht. Mehr kann ich dazu nicht sagen, denn du fast genau das in Worte, was ich diesen Sommer so fühlte.
Danke ❤️
Gesa says
so so schön geschrieben. und eine gute einstellung :) ich fühle das sehr!
Gesa says
so so schön geschrieben. und eine gute einstellung :) ich fühle das sehr!
Lisa says
Du sprichst mir aus der Seele🧡
Linda says
So hab ich sehr oft gefühlt diesen Sommer und habe Angst, dass er vorbei geht. Trotzdem ist es auch anstrengend immer alles auskosten zu „müssen“ und heute Abend hab ich wieder gemerkt, dass man immer was verpasst, aber wenn man einen schönen Abend erzwingen will, ist das noch schlimmer.
Das hat mir an deinem letzten Abschnitt gefallen und vielleicht fällt mit den baldigen Blättern doch nicht alle Leichtigkeit.
Anna says
Durchzuatmen- genau dass was ich gerne mehr tun möchte. Deine Worte haben mich sehr zum Nachdenken angeregt und mich Gespräche mit meinen Lieblingsmenschen intensiver wahrnehmen lassen. Danke für deinen Text Luise.
Julia says
Ich fühle mich gerade so abgeholt von diesem Text und fühle jedes Wort, das du schreibst. Vielen Dank für diesen schönen Text!