„Viel Kraft heute“, schreibt er mir in dem Moment, bevor ich das Handy wieder in die hintere Tasche meiner Jeans gleiten lasse.
Wir sind hier, um uns zu verabschieden. Wir stehen im dunklen Flur auf der Mamortreppe, die zu der kleinen Einliegerwohnung nach oben führt. Draußen war ein Spätsommermorgen, der schöner nicht sein könnte. Wir hatten ihn mit dem Zufallen der Tür ins Schloss hinter uns ausgesperrt.
„Wie mag sich das wohl anfühlen, zu wissen, dass man jetzt auf der Zielgeraden ist”, frage ich meine Schwester, aber irgendwie auch ins Nichts. Sie starrt wortlos geradeaus, auch noch, als wir die Klinge runterdrücken und barfuß die kalten Treppen hochgehen.
Ich kann funktionieren und stark sein. Meine Schwester auch, meist viel stärker als ich, aber in anderen Situationen. Als hätten wir das Leben in all seinen Facetten unter uns aufgeteilt. Wir existieren in unseren üblichen Rollen. Vielleicht war das schon immer so. Das hier ist mein Part. Heute bin ich stark für uns beide. Ich übernehme das Reden, wie mechanisch setze ich mich auf die Bettkante, während meine Schwester im Hintergrund stehen bleibt, die Tür direkt in ihren Rücken gepresst.
Dieses jetzt eingefallene Gesicht ansehen, dass mich die letzten dreißig Jahre durch mein Leben begleitet hat, das stumme Lächeln, die kalte Hand, die ich in meine schließe, während ich laut und bestimmt und bemüht beschwingt erzähle, dass wir da sind, und wer wir sind. Es ist ein unechtes Lächeln, das die Augen nicht erreicht, wie hingemalt, völlig unpassend irgendwie, aber dennoch will man es dem anderen schön machen – und vor allem, ihn die eigene Angst nicht spüren lassen. Alles ist okay. Du hast Zeit.
Obwohl man weiß, dass dem nicht so ist.
„Mir gehts gut“, schreibe ich ihm später zurück. „Ich glaube, dass der Kopf das nicht begreifen kann.“
Wie soll man auch verstehen, dass das jetzt ein Abschied, vielleicht, wahrscheinlich, für immer ist?
Wie aufgezogen rattern die gemeinsamen Erinnerungen an meinem inneren Auge vorbei. Sommertage im Garten, ein kleines Bassin voll mit Wasser, Himbeeren mit Wespen drin, einen riesigen Trog mit Regenwasser, die Schaukel, mitten im Gartenweg, ich sehe Wäscheleinen, blauen Himmel, matschigen Erdbeerkuchen und Sonnenblumen, die mich weit überragen. Überall um mich herum fühle ich diesen ganz bestimmten Geruch nach Sommer und Alter und Schwere, als wäre er tatsächlich da.
Das hier war die endgültigste Form des Loslassens. Unwiderruflich.
Wenn der Kopf das nicht begreifen kann, wie geht man dann damit um? All meine Emotionen sind aus meinem Gesicht erloschen. Ich starre nur stumm geradeaus, am Morgen, als sie dann geht.
Ich habe letztens irgendwo gelesen: Das Leben ist wie ein langer Film. Und du kommst mitten im Film auf die Welt und du gehst mitten im Film wieder. Es gibt immer etwas, was du verpasst. Vorne wie hinten. Und wie lange du beiwohnen darfst, kannst du begrenzt mitbestimmen. Vielleicht überschneiden sich unsere Filme immer nur zu einem kleinen Teil.
Meist ist ein Abschied auch ein Ende eines gemeinsamen Weges. Ein Ende eines Pfades, den wir noch weiter gehen wollten, der uns genommen wird. Stolpern nach jedem Abschied wieder in eine neue Richtung. Alles, was wir miteinander verbringen, ist ein Ausschnitt, eine Momentaufnahme. Niemals für immer. Das ist so bei Verlust wie bei Beziehungen, bei verlorenen Jobs, verpassten Chancen oder unerfüllten Träumen. Manchmal berühren uns Menschen, ohne, dass uns das klar war, so tief, dass die Trauer um sie ein ganzes Leben in uns nachhallt. Manchmal können wir uns nicht vorstellen, jemals ohne diese Person wieder leben zu wollen, aber doch, wird alles wieder okay.
Vielleicht konnte man damit weiterleben, wenn man diese tiefe Traurigkeit akzeptierte, die fortan wohl immer mit einem sein würde. Wenn man es schaffte, nach ein paar Wochen, die guten Erinnerungen wieder mit einem Lächeln auf dem Gesicht zu fühlen. Wenn sich das Traurigsein in Dankbarkeit umwandelte, darüber, dass man diese gemeinsame Zeit überhaupt erleben durfte.
Wenn ich es nicht für selbstverständlich nahm. Das behielt, was die Person mir gelehrt hatte, und was mir niemand mehr nehmen konnte. Ich pflücke eine Himbeere hier im Garten von den Pflanzen, die sich um die kleine Laube ranken und prüfe, ob eine Wespe darin sitzt. Auch Monate später kommt mir dieser Moment unwirklich vor, überhaupt, dass man diesen Menschen fortan nie wieder sehen würde. Die Flüchtigkeit daran. Ich drücke die Hand meiner Schwester, die ihre eineinhalb Kinder auf ihrem Schoß balanciert. Der Himmel ist strahlend blau, als hätte er sich heute besonders schön herausgeputzt. Alles, was wir hatten, waren manchmal nur noch ein paar kurze, gemeinsame Sekunden. Ich rieche Sommer und Alter und Schwere und muss lächeln.
Jani says
Große Liebe für diese Kolumne ♥️♥️
Romy says
Danke für die Kolumne!❤️
Marina says
Hey Luise.
Mal wieder ein Dankeschön für diese Worte <3 Auch wir mussten letztes Jahr meinen Opa verabschieden und das hier, deine Worte, haben mich wieder in diese letzten Minuten und darauf folgend willkürlich auftretende Erinnerungen zurückgeworfen. Es ist schön, an die gemeinsame Zeit zurückzudenken und die Vergänglichkeit nicht nur als Verlust, sondern auch Geschenk und eben als gegeben zu akzeptieren.
Liebe Grüße!
Laura says
Das ist so berührend, unendlich traurig und doch wunderschön. Mir laufen die Tränen seit dem ersten Drittel, ich kann alles nachempfinden! Danke 🤍
Marie Luise Ritter says
Ich drück dich.
Christina says
Tolle Kolumne. Der Text erinnert mich an die Kurzgeschichten in Abschiedsfarben 😍
Marie Luise Ritter says
oh, kenne ich gar nicht!
Tanja says
🤍