Wisst ihr, welchen Gedanken ich liebe? Den, dass wir noch gar nicht alle Menschen kennengelernt haben, die wir in unserem Leben lieben werden. Und vor allem auch: Dass wir noch gar nicht alle Teile an uns selbst kennengelernt haben, die wir lieben werden. Dass da noch so viele Sonnenuntergänge und gemachte Fotos, fest zugedrückte Umarmungen und geschenkte Lächeln, Charakterzüge und Eigenheiten kommen werden, von denen wir jetzt noch keine Ahnung haben. Kurz: Wie viel da noch ist, was noch kommt, das man noch gar nicht greifen kann.
Als der Sommer zu Ende ging und es September wurde, wusste ich einfach, das jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen war. Wegzuziehen, alleine. Ich fahre eine Fuhre zum Recyclinghof, dann noch eine zweite. Praktischerweise habe ich mir mit irgendeiner meiner letzten Einkäufe Lebensmittelmotten geholt, es muss eh alles aus meiner Küche entsorgt werden. In den restlichen Räumen sortiere ich seit einer Woche hin und her und schichte einzelne Haufen in der Mitte der Zimmer auf. 1: Was muss mit? 2: Was kann weg? 3: Was soll hier bleiben und irgendwo gelagert werden? Ich gehe akribisch vor, bis ich keine Lust mehr habe und den letzten Kram einfach in zwei oder drei großen blauen Säcken ins Auto werfe.
Mitkommt meine Kleiderstange und die Siebträgermaschine, ein großer Vorrat aus analogen Kodak-Gold-Filmen, Pennys veganes Hundefutter, meine Steuerunterlagen für dieses und letztes Jahr, der kleine Handstaubsauger, die große Kingsize-Bettdecke, die neuen Laufschuhe und die Bücher von meinem Fensterbrett, die sich ungelesen über den Sommer immer höher stapelten.
Weg kommt der alte Teppich, der schon Fäden zieht, das Regal in der Küche, das auch von den Lebensmittelmotten befallen sein könnte, die ganzen Kartons und Kassenzettel und dieser ganze Kram und Klüngel, alles was man irgendwo aufbewahrt, weil man es ja doch noch einmal gebrauchen könnte, und die Klamotten, die ich nicht mehr anziehe aber die noch gut und intakt sind, um gespendet zu werden.
Hier bleiben meine Fotokisten und Fotoalben von den letzten Jahren, meine Masterunterlagen, die Geschenke und Karten zu meinem runden Geburtstag letztes Jahr, die richtig dicken Wintersachen und Pullover, die ich nur bei Minusgraden rauskrame. Ich verstaue alles sorgfältig und schaffe es in fünf Kisten zu meinem Bruder in den Keller.
Irgendwie geht alles ganz schnell: Innerhalb einer Woche habe ich eine Wohnung gefunden, mit Dachterrasse und offener Küche, klein aber für mich exakt perfekt, videocall-besichtigt und unterschrieben, die Route kurz recherchiert und ein Ticket für die Fähre für Auto, Hund und mich gebucht. Ich rufe meine Krankenversicherung an und gehe meine Unterlagen fürs Ausland durch, lege ein paar Termine um, erzähle meinen Freund*innen davon.
Wir gehen noch einmal essen, aber das Treffen ist kurz und es hängt etwas in der Luft, dass ich nicht definieren kann. Nicht Schwere, nicht Aufbruchsstimmung, sondern eher unangenehme Bedrückung, etwas, als wären wir alle gerade lieber woanders. Die letzten Minuten vor einem Abschied sind das, was man manchmal am liebsten überspringen würde. Die letzten Vorbereitungen ziehen sich, ich vergesse die Hälfte, laufe ziellos durch die leergeräumte Wohnung, fühle mich ein bisschen betäubt, als würden Gefühle sich in mir aufstauen, die jetzt noch keinen Platz haben dürfen, Konzentration, dafür ist wann anders Zeit.
Neugier und Anspannung, mein Herz, das mir bis zum Hals rausklopft. Es sind diese letzten Minuten, man kennt sie, die, die nervig sind, in denen man sich konzentrieren muss, bevor der Spaß losgeht. Ich gehe noch einmal durch jeden Raum, als müsste ich mir alles extra gut einprägen, schließe die Tür und drehe den Schlüssel rum, schließe wieder auf, doch ich habe alles, zu, atme durch, alles dabei, okay los, steige ins Auto, sehe in den Rückspiegel, tschüss, mach’s gut, ich weiß nicht, ob ich wiederkomme. Tränennasses Gesicht, unbändige Vorfreude.
Die Reise zieht sich, sie ist länger, als ich in Erinnerung hatte. Alleine sieben Stunden brauche ich bis Nürnberg, erst kurz vor Mitternacht passiere ich hinter Freiburg die Grenze nach Frankreich. Ich springe an der Raststätte raus, um mir die Beine zu vertreten, versuche am Abend zwei-drei Stunden im Auto zu schlafen, was proppenvoll ist, aber die Raststätten sind wie kleine Bienenstöcke und ich werde immer wieder von aufblendendem Licht geweckt. Also fahre ich in den frühen Morgenstunden weiter, noch eine Weile wird es dunkel sein, ein, zwei, drei Kaffee werden es schon richten. Ich kenne viele, die am liebsten auch den ganzen Reisepart überspringen würden, sich einfach von zu Hause zack in den Urlaub beamen, aber ich liebe jede einzelne Sekunde an diesem Unterwegssein.
Kostenlose Raststättentoiletten in Frankreich, wie schön ist Lyon, die Sonne scheint mir ins Gesicht, ich singe mit, so laut und so schief ich kann, bis mein Gesicht einfach nur weh tut, vom lachen und singen und grinsen und eigentlich von allem gleichzeitig. Auf der Suche nach einem Haustiergeschäft irgendwo auf dem Land in Frankreich (Hundebox für die Fähre, natürlich vergessen), fahre ich über von großen Bäumen gesäumte Landstraßen, die Lichtspiele auf der Straße veranlassen, und mir laufen die Tränen, wie ständig auf dieser Reise, lasse sie los und fahre weiter, irgendwann direkt am Mittelmeer entlang, halte ständig an, halte die Reise fest, und ich trödele so sehr herum, dass ich abends fast die Fähre verpasse.
Ab da ist alles in die verheißungsvolle Dämmerung getaucht, mit der Barcelona mich empfängt und in der ich mehr zufällig als geplant im Hafen direkt an der richtigen Fähre lande und meine neue Heimat auf einem weißen A4 Zettel ans Auto gepappt bekomme. In diesem Moment weiß ich noch nichts, außer: Das hier, das will ich immer und immer wieder so machen. Mich rausholen. Neues sehen. Länder bereisen. Spontan sein. Mir etwas zutrauen. Irgendwo hin gehen, wo ich niemanden kenne. Ich glaube, dass wir, egal wohin wir gehen, uns noch einmal völlig neu kennenlernen. Und damit will ich nie nie nie aufhören.
Anonymous says
Die Fähre ging doch von Barcelona aus los?!
Marie Luise Ritter says
Ja, Barcelona-Palma via Fähre.
Laura says
Luise, ich kann so sehr nachempfinden was dich antreibt und ich finde dich so so mutig das du einfach tust was grade richtig für dich ist. Viele Menschen kommen nie aus ihrer Komfortzone und verpassen dadurch so viel vom Leben. Ich liebe deine Kolumne, freue mich jede Woche darauf!
Laura says
Luise, ich kann so sehr nachempfinden was dich antreibt und ich finde dich so so mutig das du einfach tust was grade richtig für dich ist. Viele Menschen kommen nie aus ihrer Komfortzone und verpassen dadurch so viel vom Leben. Ich liebe deine Kolumne, freue mich jede Woche darauf!
Heide says
Hallo liebe Luise
Ich kann deine Gefühle und Gedanken sehr gut nachvollziehen.
Ich selber habe diesen Schritt 2012 mit meinen Kindern getan und bei uns wurden aus anderthalb Jahren, acht Jahre auf dieser wundervolle Insel.
Auch wenn wir jetzt nur aus schulischen Gründen nur noch halbjährlich hier sind, so hat die Insel etwas was einen verzaubert und hält.
Ich möchte keinen einzigen Tag hier vermissen, und werde mit Sicherheit in ein paar Jahren wieder herkommen, um mein Leben hier vollständig zu verbringen.
Ich wünsche dir alles alles Gute für deine neue Reise.
Liebe Grüße
HEide
Svenja says
Einfach so schön und mitreißend und inspirierend und mutig und so vieles mehr!