Ich halte mein Gesicht in die Sonne, die langsam über die gegenüberliegenden Hausfassaden klettert, und schließe meine Augen. Morgens hängt hier noch diese klamme Kälte der vorangegangenen Nacht in den Straßen, die erst mit der aufsteigenden Sonne aufgewärmt und verscheucht wird. Es sind noch keine achtzehn Grad. Meine nackten Beine winkele ich nah an meinen Oberkörper und stülpe meinen übergroßen Pullover mit über sie, dann lehne ich mich zurück. Die Wohnung und die Straße unter mir ist noch ganz still. Ich höre nur das leise Schnarchen des Hundes zu meinen Füßen, nehme meinen eigenen Atem wahr, höre dieses Rauschen der kleinen Stadt, bei dem ich mir einrede, dass es das Meer ist. Ich finde das eine schöne Vorstellung. Meine Freundin, die mich gerade hier besucht, ist noch nicht aufgewacht.
„Das sieht ganz ruhig und friedlich aus, wie du da sitzt“, sagt sie zu mir, streckt sich und gähnt, als sie kurz darauf aus meinem Schlafzimmer geklettert kommt und sich zu mir auf den Balkon gesellt.
„So fühle ich mich hier auch. So ruhig irgendwie.“
Wir setzen uns mit Kaffee in mein Auto, schalten die Playlist an, die wir bei einem Trip vor vier oder fünf Jahren zusammen erstellt haben. Der Sonnenschein flimmert auf dem warmem Beton der Autobahn, die wir Richtung Norden befahren. Sie kurbelt das Fenster meines alten Vans runter und lehnt ihren Arm raus, ich nippe an meinem Kaffee, grinse sie an, wir beide schweigen. Eine knappe Stunde dauert die Fahrt, von der Autobahn in einen Tunnel, dann ein paar Serpentinen runter nach Soller, durch die kleine enge Stadt hindurch bis zu einer Zitronenfarm in verstreuten Ortschaften dahinter. Soller liegt im Tramuntana-Gebirge, ungefähr die Hälfte der Menschen hier in den Bergen wohnen in der Stadt. Auf dem letzten Stück muss ich immer wieder anhalten und zurücksetzen, um entgegenkommende Autos durchzulassen, weil die Gassen hier so eng sind. Wir parken und ich klappe beide Spiegel ein. Meine Freundin hat ein eigenes Foodmagazin und liebt es, mit Zutaten, Texturen und Geschmackskomponenten zu spielen. Heute will sie sich hier einen Zitronen- und Orangenanbau angucken, ich begleite sie gerne dabei, mache ein paar Fotos.
Auf kleinen Schildern, die sich neben den Bäumen befinden, werden die verschiedenen Sorten erklärt, die Geschichte, wie sie hier hingekommen sind. Wir laufen über eine riesige Wiese zwischen den Bäumen auf markierten Pfaden entlang. Ich höre ein paar Vögel, die ich nicht näher auseinander halten kann, einen Uhu vielleicht. Die Ruhe hier ist unglaublich. In der Ferne hört man Geräusche, als würden sich Maschinen über angrenzende Felder arbeiten. Es können Mähdrescher sein, aber ich weiß nicht mal, ob um diese Zeit hier irgendetwas gemäht wird. Das Panorama der Berge ist in ein diesiges, blaues Licht getaucht. Es ist ungewöhnlich warm für Ende Oktober. Wir verbringen ein paar richtig schöne Tage zusammen, essen gut, reden viel und schweigen, das können wir miteinander am besten. Auch sie bringt diese Ruhe für mich hinein. Einen Tag später reist sie von hier ab, und es ist komisch aber auch ganz normal, dass sie geht und ich bleibe.

Ein paar Tage später sitze ich zum Sonntagmorgen wieder so da, in der klammen Morgensonne mit nackten Beinen auf meinem Balkon, diesmal alleine, und will darüber schreiben, über diese Ruhe. Ich lasse meinen Blick schweifen über die beigen Hausfassaden um mich herum, über die kleinen verglasten Wintergärten und die alten spanischen Häuser, die zu eng geparkten Autos, die langen Schatten, die sich über die Kreuzung ziehen. Mir fallen keine Worte ein, keine passenden zumindest.
Alles klingt schwülstig oder zu nüchtern, irgendwie gekünstelt, nicht so, wie ich es meine, und egal was ich tippe, keiner dieser Wortfetzen schafft es, dieses Gefühl in die richtigen Worte zu fassen. Ich schließe das Dokument wieder. Ich bin nicht genervt darüber, ich lasse es einfach gut sein. Es ist da, ich fühle es, kann es einfach ein Gefühl sein lassen, davon zu erzählen ist nicht so wichtig.
Die Menschen hier an diesem Sonntag, dem letztem im Oktober, schlendern durch die Stadt, halten an und genießen die Sonne. Alles ist entzerrt. Es ist nur so ein Empfinden, das bleibt, auch wenn ich vielleicht nicht die richtigen Worte hier dafür habe: Dieses, dass mich gerade nichts aus der Ruhe bringen kann. Genau das schreibe ich abends noch handschriftlich auf, um diesen Gedanken festzuhalten. Dahinter setze ich kein Fragezeichen, kein Ausrufezeichen, nichts, was etwas besonders betont oder die Antwort noch offen lässt, sondern nur einen Punkt. Dann klappe ich das Tagebuch wieder zu.
Das foodmagazin meiner Freundin aus diesem Text heißt Ölsalzessig
Die Zitronenfarm, auf der wir waren, war Ecovinyassa
Anne says
Liebe Luise, ich finde es total schön, wie du darüber schreibst, nicht die richtigen Worte zu finden, für das was du in diesem Moment gefühlt hast. Obwohl da so viele Gefühle sind. Und dass das okay ist, du nicht wütend darüber bist, sondern es einfach sein lässt. So geht es mir auch oft in letzter Zeit. Ich habe so viele Gefühle, so viele Gedanken, die ich loslassen und auf dem Papier festhalten will, aber dann sitze ich vor meinem Tagebuch und kann es nicht aufschreiben. Schreibe dann ein paar Worte, ohne wirklich das auszudrücken, was ich sagen will und klappe es wieder zu, manchmal enttäuscht, dass ich keine Worte finde. Aber du hast Recht, es ist völlig okay, keine Worte zu finden. Wir behalten trotzdem diese Erinnerung.
Marie Luise Ritter says
so ein schöner Kommentar, danke <3